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Heute schreibe ich über meinen Vater, denn der 26. Oktober war sein Namenstag: das Fest des heiligen Demetrius.
Wer sich an die Lektüre von Platons Republik gemacht und nur das Bisschen Geduld gehabt hat, das nötig ist, um über die ersten Seiten hinauszukommen, wird noch wissen, wem Sokrates die ersten Fragen stellt: Kephalos, dem greisen Messerfabrikanten. Der meinte, ein rechtes und erfülltes Leben gelebt zu haben, denn er habe seinem Sohn Lysias – dem bekannten Redenschreiber – ein größeres Vermögen hinterlassen als das Vermögen, das er von seinem Vater Lysanias einst erhielt, und etwa ein mit dem gleichwertiges, das dieser wiederum von dessen Vater Kephalos geerbt hatte.
Um der berechtigten Frage nachzugehen, ob das ein Kriterium des erfüllten und rechten Lebens sein darf, muss der Leser allerdings viel Geduld aufbringen. Die Republik ist ein sehr langes Werk.
Was dem Leser leicht entgeht, ist, dass Kephalos zwischen den Zeilen ein weiteres Kriterium des rechten und erfüllten Lebens angibt: Jeder Sohn hieß in Kephalos’ Familie so oder ungefähr so wie der Großvater. Der Name des Sohnes garantiert das Ahnengedenken.
Auch ich heiße so wie ein Großvater – ein ehemaliger Bürgermeister einer kleinen Gemeinde auf einer Insel in der Ägäis. Aber keines meiner Kinder heißt so wie mein Vater. Denn erstens habe ich Töchter, zweitens würde sich meine Frau mit keinem mit Ach und Krach sprachlich angepassten Männernamen für die eine oder die andere Tochter abfinden. Für jemanden wie meinen Vater, der meint, dass jeder Eigenname eine Ehrerbietung an einen Ahnen sein soll, ist das traurig.
Im Sommer war ich wieder mal bei meinen Eltern, in Südost-Attika. Dort hat mir mein Vater einen Stapel DIN-A4-Seiten präsentiert, die sich als seine Memoiren herausstellten – seine privaten Momente (sein “bios“) und seine öffentlichen auch (seine “politeia“). Darunter gibt’s haarsträubende Geschichten über suizidöse Geschäftspartner, über zum Fenster hinausgeschmissenes Geld, über die Leidenschaft des Tauchens vor dem Hintergrund eines Landes (Griechenland in den 80ern) im Sog der Entindustrialisierung, der politisch kalkulierten chaotischen Zustände, der Misswirtschaft, der Klientelwirtschaft.
Der Stapel ließ sich schön lesen. Ein Kribbeln im Bauch erzeugten allerdings bei mir die ersten Seiten über den acht-, zehn-, zwölf-, sechzehnjährigen Insulaner, der Wehrmachtsoldaten um ein paar schön glänzende Schießpatronen bittet, der auf dem Weg zur Schule untergetauchten Genossen seines Vaters (Opa Stamatios war KP-Mitglied…) sein Pausenbrot gibt, der im Streit einen Schatz aus im Gebüsch versteckten Fensterscheiben kleintritt, der nach Athen will. Nicht ohne Unbehagen stellte ich fest, Sohn eines impulsiven Abenteurers zu sein.
Der heilige Demetrius liegt meinem Vater näher als Christus. Selbst die ikonographische Darstellung des die Polis verteidigenden Heiligen hat klassische Vorbilder. Sie soll christliche Liebe mit homerischem Streit verbinden.

Die Menschen streiten meistens genauso gut, wie sie lieben können. Mein Vater jedenfalls…
Obwohl ich diesen Blogeintrag erst post festum schreibe, habe ich ihm gestern nicht zu gratulieren vergessen. Den Namenstag meines Vaters vergesse ich nie.

Today I am writing about my father. October 26th is the day of the saint whose name he bears: Demetrius.
Those who were patient enough to start reading Plato’s Republic and to continue reading after the first pages will remember whom Sokrates asks the first questions: Cephalus, the old knife-manufacturer. Cephalus considers his life to be just and virtuous since he left his son, Lysias, the well-known orator, a property much bigger than the one which he had received by his own father, Lysanias, and almost as big as the one which Lysanias had received by his father, Cephalus.
Of course, the question is whether this is a justified criterion of a just and virtuous life. In order to learn what Plato thought about this, the reader has to have much patience. The Republic is a dialogue which goes on and on for hundreds of pages.
But most readers have already failed to see that Cephalus boasts of one more criterion of a just and virtuous life he thinks he fulfils: every son in his family is named after a grandfather. The sons’ names guarantee that the ancestors will be remembered.
I was named after a grandfather myself. He was a mayor of a little village on an Aegean island. But none of my children is named after my father. One reason is that I have two daughters. Another is that my wife would never want her daughters bear a male’s name which has been grammatically adapted for them. For someone like my father who thinks that proper names express veneration for an ancestor, this is sad.
Last time I was with at my parents’ place in southeast Attica it was in the summer. My father presented me a pile of paper which turned out to be his memoirs: the private moments (his “bios“) as well as the public ones (his “politeia“). Embarassing stories about business partners with suicidal tendencies, spent money, the passion of diving in front of a background of a country (Greece in the 80s) de-industrialized, in a situation of politically manipulated chaos, mismanagement and patronage.
The pile was a good reading. However, it was unpleasant to read the first pages about the eight-, ten-, twelve- and sixteen-year old who asks German soldiers to give him some shiny machine-gun cartridges, who gives his sandwich to his father’s comrades on his way to school (grandpa Stamatios was a member of the Communist Party…), who destroys a treasure of window panes hidden in a bush just to show he’s angry, who wants to go to Athens. I realized that I am the son of an impulsive adventurer – and this not without discomfort.
My father is closer to Saint Demetrius than to Jesus. Even the iconographic tradition of the saint who defends the polis corresponds to classical Greek reliefs and combines Christian love with Homeric anger.
The intensity of anger often corresponds the intensity of love which one is able to feel. At least this is the case with my father.
I’m writing this posting only post festum, but I didn’t forget to call and wish all the best. I would never forget my father’s name day.
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