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Sie sind Drittklässler. Sie haben hart gearbeitet. Sie wollen belohnt werden. Von mir.
Es ist genug Belohnung für sie, wenn sie Edelsteine in die “Waagschale der guten Taten” hineintun dürfen. Dabei handelt es sich um eine altmodische Waage, in die ein Edelstein hineinkommt, wenn der Klasse etwas gelungen ist.
Ganz ehrlich: Ich bin, seit ich in pädagogischer Hinsicht Adlerianer wurde (also seit Unzeiten), gegen Belohnungen und Preise für besondere Leistungen. Denn ich bin gegen Strafen. Aber eine Belohnung für X ist eine Strafe für Y, wenn Y dabei zuschauen muss. Zwar bin ich bereit, eine Ausnahme zu machen, bloß: Es gibt nicht genug Edelsteine für alle und alle haben gleich hart gearbeitet.
Sie sind erfinderisch: Ich solle mit irgendeiner fadenscheinigen Begründung irgendjemanden belohnen. Damit es eine Belohnung überhaupt gibt.
Das ist nun wirklich gegen meine Grundsätze und ich versuche die citius-altius-fortius-Mentalität ad absurdum zu führen.
Mir doch egal [Ich bin so ein Lügner, wenn ich will…]! Den ersten Edelstein erhält, wer mir ALS ZWEITER ODER ZWEITE sagt, wie viele “X” in der römischen Zahl für 34 enthalten sind.
Ich habe nämlich gehofft, dass alle aus Angst, die ersten zu sein, schweigen und hoffen, dass ein unachtsamer Mitschüler als erster “drei” sagt, damit sie abermals “drei” rufend die Auszeichnung bekommen – als zweite dran, denn nur der oder die zweite sollte den Edelstein haben.
Nix da! Sie versuchen einander in Schnelligkeit zu überbieten. Der übliche Kandidat sagt “drei”, die nächste, die “drei” sagt, erhält den Edelstein und darf ihn in die “Waagschale der guten Taten” platzieren.
Aber es gibt noch einen Edelstein. Jetzt werden sie am traurigen Gesicht des früheren Erstrufers gemerkt haben, hoffe ich, dass sie bei diesem Spiel zunächst schweigen müssen, um eine Chance zu haben, als zweite dran kommen zu können. Und wenn alle so tun, dann schweigen sie alle gemeinsam, weil sie so gewinnen zu können wähnen! Aber, wenn alle schweigen, dann gewinnt niemand und infolge dessen – so meine Rechnung – brauche ich niemanden zu belohnen.
Den zweiten Edelstein bekommt, wer mir ALS ZWEITER ODER ZWEITE sagt, wie viele “X” in der römischen Zahl für 27 enthalten sind.
(“Zahl” bedeutet hier natürlich “Numeral”. Ich bin doch nicht verrückt, bei den Kindern den Unterschied zwischen Zahlen und Numeralen zu thematisieren)
Die Reaktion der Neunjährigen auf meinen erneuten Vorstoß habe ich nicht erwartet. Trotz ihrer Erfahrung mit den Tücken meines Spiels in der ersten Runde, haben sie sich in der zweiten Runde schon wieder entgegen ihren Interessen – die sie anscheinend nicht wahrgenommen haben – um die schnellste Antwort abgemüht – um die Belohnung im Endeffekt einem Zweiten zu überlassen. Mein Plan, die Belohnung der Kinder zu bomben, misslang – wegen der Irrationalität dieser Kinder. Rationales Verhalten hätten sie an den Tag gelegt, so hatte ich wenigstens angenommen, wenn sie geschwiegen hätten, um die eigenen Chancen zu erhöhen, als zweite die richtige Antwort zu geben.
Dennoch habe ich nach dem misslungenen Versuch nichtdiskriminierender Pädagogik etwas gewonnen: eine Erkenntnis im Sinn der Experimentalphilosophie. Indem die Kinder die eigenen Interessen nicht achteten und nicht schwiegen, haben sie gerade erst eine Belohnung ermöglicht. Wenn das Ziel war: Wir wollen, dass hier belohnt wird, dann war ihre unbewusste Strategie ja rational. Angenommen, alle wären rationale Individuen in meinem Sinn der erstklassigen, reflektierten, Superduper-Rationalität, hätte nach meiner Strategie des Schweigens gar niemand belohnt werden können! Wäre das wirklich rational? Die Frage ist rhetorisch.
Den Lesern dieses Blogs kommt es vielleicht verblüffend vor, dass ich hier ketzerische Ansichten zur Rationalität vertrete und eine abweichende Rationalität befürworte. Tatsächlich bin ich normalerweise ein klassisch denkender Philosoph. Nach und nach verwässere ich aber meinen Wein – je mehr ich mich mit beobachtbarem Verhalten beschäftige, erst recht bei Kindern.

ENOUGH WITH SCROLLING
They are third graders. They have worked like hell. And now they want a reward. And I have to grant it to them.
It’s not a big reward they ask for. In fact, it’s only a permission. The permission to tip the scales “of good deeds” with gems. It’s only old-fashioned scales to which the kids may place a gem whenever the class has achieved something big.
But honestly: since I became an Adlerian in terms of education (since ages, that is) I am opposed to rewards for great achievements. I am opposed to them just like I’m opposed to punishments: if you reward X and let Y watch and don’t reward Y, Y will experience X’s reward as a punishment for himself. I can make an exception, of course, however: we didn’t have enough gems and they’ve all been hard-working children.
But they insisted that I should reward those who did something extraordinary even if this wasn’t very important. Something… This something being my excuse to reward Jacob and not Esau.
Of course, this quite emphatically contradicted my principles and for that reason I tried to take the kids’ citius-altius-fortius–hype ad absurdum.
I don’t care [Although, of course, I did care…]! I’ll give the first gem TO THE SECOND kid who’ll tell me how many Xs there are in the Latin number for 34.
My hope was that every kid would see the danger of speaking out the correct answer too early for him to be second and would prefer to remain quiet. And that everyone would be rational enough to remain quiet then, to render the game to a parody.
They competed like pros for the first place instead… A keen pupil said “three” (to lose the reward) and the next who repeated what the first had said got the gem to place it into the scales with a glow of enthusiasm shining all over her face. A battle lost.
But a battle lost is not a war lost – not even for my Adlerian stance. One more gem, one more round. Now, I thought, that in the second round at the latest they’ll realise how sinister my game was since they could see how sad the face of the first round’s early bird was. They’ll draw the right conclusion – I thought to myself – the conclusion to avoid to speak first. But if everyone avoids to speak first, then no one speaks ever. No one will be the winner and no one will be rewarded – this was my plan.
The second gem goes to the one who’ll be the SECOND person to tell me how many “Xs” there are in the Latin number for 27.
(I used “Latin number” to mean “Roman numeral” in this context. I would be a fool to tell children the difference between numbers and numerals though)
I didn’t expect their reaction. Also in the second round, they attempted to be the first to give the right answer – their experience with the injustice of my game notwithstanding, and against their own interests which they probably didn’t realize at all. Of course the kid’s failure to reflect on a rational strategy left someone imitate the first best answer – to be the second and to get the reward. My plan was to take ad absurdum the children’s wish to get rewarded. This plan was doomed to fail due to the irrationality of these children: the irrationality that prevented them from remaining mute and that made them hope that someone would be irrational enough to speak out the correct answer first.
My defeat in terms of non-discrimination education was obvious. But I also had gained something in terms of experimental philosophy. The kids ignored their own interests and failed to remain silent to ensure not to be the first to give the right answer. However, by doing so they ensured that there will be some reward. If this was their goal, then they achieved it by means of the only rational strategy to achieve it. If they had happenned to have a grasp on my first-class, reflected, super-duper rationality, I mean all of them, then all of them would have remained silent and no reward would be given.
To some of my readers, it will come as a surprise that, of all people, I appear to be a heretic who propagates deviant rationality. True, in terms of logic I’m rather a classical thinker. But I tend to water down my wine the more I occupy myself with observable behaviour, let alone the observable behaviour of minors.
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