Miss Behaviour

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Wörter wie “Fräulein”, “miss”, “despoinis” waren nie Bestandteil meines Idiolekts. Sie setzen voraus, unverheiratete junge Frauen wären aufgrund ihres Ungebundenseins anders wahrzunehmen als unverheiratete junge Männer. Der moralische Anspruch an eine Miss ist altmodisch. Ich gebrauche das Wort auch gegenüber meinen Töchtern, die 13 und 15 sind, nur selten; meistens als unseriöse Zierde, wenn das Lob nicht zu ernst werden darf.

“Misbehaviour” hat auch altmodische Allüren. “Misbehaviour” setzt voraus, das richtige Verhalten gebe es wirklich. Richard Thaler, dem Nobelpreisträger für Wirtschaft des Jahres 2017, ist zu verdanken, dass die Ökonomie und die Sozialpsychologie näher kamen, da er Fehlverhalten im Ökonomischen entdeckte. Er nannte das “misbehaving” in den 80ern, als rationales Verhalten noch generell als a priori deduktiv-monoton und konsistent aufgefasst wurde.

Ein solches Verständnis der Rationalität gilt heute als altmodisch. Heute gibt es Wissenschaftstheoretiker, die nichtmonotone Entscheidungsprozesse und inkonsistentes Verhalten nicht etwa für fehlgeschlagen im Sinne Thalers, sondern für rational unter gegebenen Bedingungen halten. Wenn sehr viele Menschen zum nächsten Supermarkt fahren, um beim Reis einen Euro zu sparen, niemand aber nochmal ins Auto steigt, um für eine Stereoanlage einen Euro zu sparen, dann ist das nicht etwa ein erwartetes Fehlverhalten des Menschen im Gegensatz zum homo oeconomicus im Sinne Thalers, sondern: das eine rational zum Kauf von Reis, das andere rational zum Kauf von Stereoanlagen. Dass Partner einander zum Geburtstag Sachen kaufen, die jeder für sich selber als nutzlosen Luxus abgetan hätte, ist plötzlich nicht inkonsistent, sondern in Ordnung für die gegebene Situation. Aus der einen, apriorischen Rationalität werden mehrere situative: eine Rationalität des Stereoanlagenkaufs, eine der jungen rote-Schuhe-Käuferin, eine des Löwenzahnverkäufers im Gegensatz etwa zum Kaninchenverkäufer. Die Grundlagenforschung im Sinne der nichtmonotonen Überzeugungsrevision und der Parakonsistenz ist eine, die auf den normativen (eigentlich nomologischen) Aspekt der Logik verzichtet und einer Fusion von Logik und empirischer Marktforschung zustrebt. Rational wäre demnach das, was die meisten in der gegebenen Situation tun. Wenn die meisten nichtmonotone Entscheidungsprozesse für rational halten, muss das OK sein: “Spinat ist da drin? Dann nehme ich was anderes. Hier? Feta? Ufff! Gibt’s nix Essbares? Und was ist in dem da drin? Feta und Spinat? Von dem zwei Stück, bitte”.

Lassen sich aber damit allgemeingültige Empfehlungen für Anleger, Marktstrategen, Ethiker formulieren? Wohl kaum. Wenn die moderne (eigentlich postmoderne) Belief-Revision-Theorie die Entscheidungstheorie zu beeinflussen anfängt, dann wird keiner der Marktstrategen oder Ethiker irgendeinem Anleger etwas Aussagekräftiges sagen können, nachdem sie nämlich an der Uni gelernt haben werden, dass die Wissenschaft nicht in der Lage ist, menschliches Verhalten vorauszusagen oder zu lenken (egal, was von beiden der Fall ist). Damit werden wir damit auf ein Niveau vor Adam Smith und David Ricardo zurückfallen…

Jedenfalls bekam ich am Freitag bunte Kleidung, vielversprechende Getränke und Leckerli zum Geburtstag. Unsere Töchter haben mir zwar zwei Artikel, die um ihres Selbst Willen geliebt werden sollen, solche allerdings, die entweder nichts oder sehr wenig kosteten. Moderne (eben postmoderne, parakonsistente, pluralistische) Wissenschaftstheoretiker würden sagen, dass unser Verhalten als Familie, auch das unserer Freunde größtenteils deduktiv-monoton und konsistent ist, aber dass das auch keine Rückschlüsse auf das Verhalten (sogar “auf die Rationalität”) anderer bieten sollte. Ich sage es anders: Wir müssen sparen und zwar nicht aus einer inneren Einstellung, sondern aus der Notwendigkeit heraus. Die Peano-Arithmetik, Ockhams Rasiermesser, die Mengenlehre, die Bivalenz sind Grundsätze des Sparens. Traditionelle Logiker und rationale Geschenkemacher haben das, was Miss Piggy ein “gift-giving gift” nennt.

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My idiolect doesn’t include words like “Fräulein”, “miss”, “despoinis”. These words presuppose an old-fashioned view on young females as juxtaposed to bachelors. I don’t use them towards my daughters who are 13 and 15 either, with the exception of moments I praise them wishing not to sound too serious.

“Misbehaviour” has also old-fashioned associations. Richard Thaler (Nobel Prize for economics in 2017) coined once as misbehaving (meaning: acting irrationally) your being likely to go to the next supermarket if rice there is 50 cents cheaper but not bothering to do so if they sell TV sets that are 50 cents cheaper; your not buying an item because it is useless luxury, one, however, which you buy for another member of your own family. Back in the 80s, when Thaler had the idea to bring economics and social psychology closer, rationality was generally understood as a priori deductive-monotonic and consistent. Therefore he thought that what enters economy with these cases is misbehaving or irrationality.

Today, quite a few philosophers of science consider nonmonotonic belief revision to be OK. “What’s in this? Spinach? No way, I hate spinach! In that? Feta-cheese? Disgusting! What’s in this one? Spinach and feta you say? Just give me two”. If many people think according to this scheme, you must learn to consider it rational, they’ll tell you. Modern (rather postmodern) belief revision theory assumes the existence of different “rationalities”. This is still no problem. But if pluralistic logic starts affecting other disciplines like economics and the latter starts tagging as “rational” whatever many people do, also what “misbehaving” Humans as opposed to professor Thaler’s Econs do, the traditionally normative (actually nomological) aspect of decision making will give way to a fusion of logic and social statistics in immensely many special situations. Should logical pluralism and paraconsistency enter the scene of decision making, what recommendations can ivestors expect from fund managers or ethicists alike? The answer is: none. If science is in the position to predict or to guide our behaviour, then we are after 300 years on a level Adam Smith und David Ricardo had left behind…

The biggest part of the presents last Friday, my birthday, consisted of things to wear, to eat and to drink. Only our daughters gave me things to be liked for their own sake – but again things that cost no or almost no money. Modern philosophers of science would say that the behaviour of my family and friends is grossly deductive-monotonic and consistent but this cannot be taken as an indication of other people’s behaviour (to “other people’s rationality” they would even say). I have another explanation: We have to save our money and this is not a disposition but a necessity. Peano arithmetic, Ockham’s razor, set theory, bivalence are economic principles. Classical philosophers and economists, also rational present makers have what Miss Piggy calls a “gift-giving gift”.

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Kant und Corona

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Es gibt Errungenschaften, deren nur in runden Jubiläen gedacht wird. Es gibt auch solche, die ständig gefeiert werden können. Vor 235 Jahren und 9 Monaten erschien Kants (AA VIII, 33 ff.) Begriffsklärung der Aufklärung.

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.

Der Ausgang einer aufgeklärten Gesellschaft aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit hängt mit Mühe zusammen, denn

[h]abe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. (Kant, AA VIII, 35)

Einer breiten Öffentlichkeit ist es mittlerweile bewusst, dass es für jedes Buch andere Bücher gibt, wo etwas anderes steht; auch dass der Seelsorger keine unanfechtbare Autorität der angewandten Ethik ist. Mit anderen Worten weiß der durchschnittliche Europäer, sich in Sachen Ethik und Politik seines Verstandes zu bedienen.

Aber es ist ihm in der Regel nicht klar, warum die Ärzte ihm etwas vorschreiben. Es ist ihm auch nicht bekannt, dass die Bekämpfung einer Epidemie auf statistische Daten abzielt, nicht etwa Individuen im Blick hat. Mit Maßnahmen gegen die Verbreitung des neuen Corona-Virus wollen die Politik und die Ärzte die Allgemeinheit etwas tun lassen, wovon diese sehr wenig versteht. Wären wir in Sachen öffentliches Wohl so aufgeklärt gewesen, wie etwa in Sachen Religion, Ökologie und Waffenexporte, so wäre manch ein Missverständnis in der Corona-Krise vermieden worden.

Schulmedizinisch aufgeklärten Bürgern braucht z.B. nicht gesagt zu werden, wie andere in der Umgebung weniger gefährdet warden. Nicht Aufgeklärten erscheinen die Maßnahmen dagegen zusammenhanglos. Wer so wenig von der Sache versteht oder so ein Formalist ist, dass er um 7 in der Früh menschenseelenallein im Auditorium eine Maske trägt, belächelt nicht nur sich selbst, sondern hadert irgendwann gegen die Politiker.

Ja, es stimmt, dass ein Kantianer moralische Maximen aus Pflicht allein umsetzt. Aber Kantianer sind auch bemüht, mehr über die Legitimation und die Aufrichtigkeit der Maxime zu wissen.

Die Aufklärung hat uns säkularisiert; sie hat uns zu Kriegsgegnern und zu kritischen Lesern gemacht. Jetzt legt sie uns nahe, den Pschyrembel zu kaufen. Erstens ist das nicht schwierig, zweitens hilft es, echten Corona-Populismus von begründeter Rücksicht zu unterscheiden.

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Some achievements in the history of mankind are celebrated every century. Others are constantly present. 235 years and 9 months ago, Kant (“An answer to the question: What is enlightenment?”. In Mary J. Gregor (ed.). Practical Philosophy, The Cambridge Edition of the Works of Immanuel Kant. Cambridge University Press, 1999. pp. 11-12) defined enlightenment as:

…man’s leaving his self-caused immaturity. Immaturity is the incapacity to use one’s intelligence without the guidance of another. Such immaturity is self-caused if it is not caused by lack of intelligence, but by lack of determination and courage to use one’s intelligence without being guided by another. 

This is not without pains since, as Kant continues, having a book which contains the whole truth, a priest to represent your own conscience, a medical doctor to judge your habits (my italics; eating or non-eating habits: I conceive the word “diet” broadly, according to its original Greek usage), there is less labour.

The popularisation of science and the project of educating audacious citizens has made progress since then. Most Europeans know today that there are many books which are very likely to contain parts of the unique truth. Books to read, parties to vote, churches to visit, decisions to make which can all be granted by some sort of moral reasoning.

It is more difficult to have citizens who know, though, why the doctor insists them to do certain things. Citizens who understand why the notion of reducing some statistics in the context of an epidemic does not exclude all risks but simply reduces some; people of such a deep formalistic attitude that would make them feel obliged to wear a mask when alone in the auditorium at 7 am if public health regulations prescribe masks in the auditorium – such folks would eventually make fun of themselves and at the end condemn the regulations. An informed citizen doesn’t need to be told how not to endanger her fellow citizen’s life. A citizen without a considerable knowledge of mainstream medicine would be doomed to follow the rules ignoring their point and, eventually, neglect them as pointless.

I know: Kantians perform in the moral realm out of duty. But Kantians are also informed about the rationale behind the duty.

After Kant (and Voltaire and d’Alembert, and Rousseau…) the West has learned to get informed and to read critically. Now we must also buy Stedman’s Medical Dictionary. This is not difficult and it will teach one to tell populism from genuine care.

Forthcoming…

… in BankArchiv, Vienna

“Selbstverschuldet” (self-incurred) is an adjective known from Kant, of course. If you fail to draw your own conclusions from experience with your own reasoning, your immaturity is self-induced:

To vapóri

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Gäbe es eine eigenständige euböische Literatur, dann wäre Jannis Skarimbas ihr Ludwig Thoma und ihr Johann Peter Hebel. Das in seiner volkskundlichen Phase. Später wurde er zum ersten griechischen Surrealisten. Noch etwas später wollte er eine Art Historiker sein, der für eine KP-engagierte oral history eintritt. Diese dritte Phase möchte ich außer Acht lassen, da sie sehr schwach und qualitativ schlecht ist. Die zweite birgt Überraschungen in sich. Denn wie kann ich es sonst nennen, wenn zwanzig Jahre vor Thomas Nagels “What is it like to be a Bat?” der Satz geschrieben wird: “Wie wäre es, wenn wir sehsinnmäßig springen und bewegungsmäßig sehen würden?” Skarimbas genoss kein Philosophiestudium und trotzdem wies er auf einen Zusammenhang hin zwischen Intentionalität einerseits und Kategorien bzw. Kategorienfehlern andererseits.

Es ist ausgerechnet die erste Phase, aus der ich unten übersetzte. Das Gedicht, zunächst 1936 erschienen, tendiert zur Volkspoesie, was sich in der Wortwahl (so ist z.B. vapóri statt karávi oder plío zum Schiff ein “Euböismus”) und der Hafenszenerie manifestiert. Es ist nicht im Sinne des Propagierens der Heimatliteratur meiner Insel, wenn ich ihn übersetze. Eher halte ich es für eine Ungerechtigkeit, dass er unübersetzt und unbekannt bleibt. Vor allem würde der Roman seiner volkskundlichen Phase To thío tragí (Heiliger Ziegenbock) mehr Aufsehen verdienen. Der Hauptcharakter darin, ein Negativbild von Nietzsches Zarathustra, ist ein areligiöser Provinzler – mit mystischen Zügen, wenn es ihm gerade passt – gleichzeitig Gedichte schreibender Stallmeister, der zum Schluss die Ehefrau seines Arbeitgebers ins Bett kriegt. Um das Tragí zu übersetzen, bräuchte ich sehr viel Freizeit, die ich nicht habe. Wenigstens ein Gedicht und wenigstens etwas von dessen Versmaß und Reim hinüberretten. Für Kommentare wäre ich dankbar.

Das Dampfschiff
Schleichend wurde es spät und gleich noch trüb und trüber// 
blaulich wie 'ne Wolke voller Druckerschwärze.// 
Mitten im Dunst kam er bedrohlich rüber,// 
lief in den Hafen ein sachte an die Ankerplätze.// 

"Der Dampfer", sagte ich und zwar erschrockener Seele.// 
Siehe da: das Geisterboot, doch siehe!// 
Wen wohl kam es zu packen an der Kehle// 
böse, gehässig wartend unten hier?// 

Furchtsam war mein Mut und mit allem Bangen// 
schwarz der Verdacht, den ich hatte in meinem Herzen.// 
Offenbar würde ich unbekannt gelangen// 
weit außerhalb der Weltengrenzen.// 

Ach wie unglücklich weinte ich nachtsüber frei,// 
alle Vorbereitungen des Hades um zu treffen,// 
als das Dampfschiff am ganzen Leib rülpste mit Geschrei -// 
blinde Hyäne von denen, die im Dunkeln kleffen.// 

Morgens sah ich es nicht. Im Wasser zog sich ein Strich,// 
einer, der sich mit dem Himmel vereinigte// 
sich schlängelnd nur, wohin dies Schiff -// 
den Kurs von meinem Dampfschiff zeigte.// 

Nun sogar noch trauriger öffne ich meine Seele.// 
Bitter lamentiert's in meinem Herzen.// 
Ach, was für eine Chance ist die, die, wie man sagt, mir fehle// 
zu fliehen außerhalb der Weltengrenzen.


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If there were a literature called Euboean, Yannis Skarimbas would have been its Seán O’Faoláin without the nationalism.

This was in his ethnographic phase. Later, he became the first to write surrealistic prose in Greek. Then he went into historiography to write in a manner reminiscent to oral history and favouring the Communist Party of Greece.

This third phase is the weakest of all and I will not dwell on it. The second can be surprising. Thirty years before Thomas Nagel’s “What is it like to be a Bat” you have an author who wonders what it would be like to jump seeingly (sic) and to see jumpingly (sic). Even if this is a way to play with the possibilities a language offers, one that unluckily resulted to gibberish talk, Skarimbas shows that there is a connection between intentionality and the proper use of categories as opposed to category mistakes.

My following translation of a piece of his folk-tune-like poetry is not due to nostalgic mood, me poor guy earning my daily bread in Switzerland instead of fishing at the Euboean shores. Rather, I find it unjust that he remains untranslated and unknown. For example his novel Holy Goat – its main character is like a negative film of Nietzsche’s Zarathustra – deserves a translation which would demand much more time than I have. Below, I am translating a poem first released in 1936. It tends to folk poetry, which is manifest in “Euboeisms” like vapóri instead of karávi or plío for ship as well as in the scenery.

My first concern was to keep the metre and the rhyme. I would be grateful for comments.

The Steamship
Gloomy the evening, heavily proceeding// 
blueish like a cloud that's made of ink.// 
Covered in the mist, floating and heeding// 
the steamship came to anchor 'fore you blink.// 


"Gosh, the steamship!" said I and my heart was trembling.// 
Watch out, that's the ship, the vulture, how bogus!// 
Who has she come for and awaits to sling// 
at in her anger and silence from among us?// 


During the whole night I cried, unfortunate me,// 
getting prepared for the harrowing of Hades// 
and the steamship did nothing but burping and howling -// 
a hyena who's as blind as the shade is.// 


On the morrow I missed it. In the waters there was stretched// 
a snake-like line that joined the firmament,// 
one the vessel had drawn and fetched,// 
one which along my steamship went.// 


I open my soul with an even sadder mood.// 
Sorrow bitterly sings in my inside.// 
Oh what a chance I lost to depart for good// 
to a place out of any borders worldwide.