The parallel

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Greta ist meine Tochter und sie sagt mit Sechzehn Sachen wie: “Eine Frau, die ihrem Herzen folgt, gilt als die schlimmste Person der Welt. Ein Mann, der das tut, wird gefeiert”. Sie guckt entsetzt dabei.

Joachim Triers Film Der schlimmste Mensch der Welt (nominiert für zwei Oscar) ist liebenswürdig genauso wie die Protagonistin, genauso wie die Rolle der Frau, die das Medizinstudium, anschließend das Psychologiestudium, anschließend mit Aksel, anschließend mit Eivind abbricht.

Nach der Filmvorführung habe ich noch nicht an Gretas Spruch gedacht. Erst nachts passierte das, als ich an Woody Allens Film Hannah und ihre Schwestern dachte, wo (natürlich!) der moralistische Unterton (“schlimmster Mensch” oder?) fehlt, da die Person, die dort ihrem Herzen folgt, Hannahs Ehemann ist, ein Mann – gespielt übrigens von Michael Caine.

Wer findet die moralistischen Untertöne nicht strange? Diese bestimmten, meine ich, gegenüber der Frau in einem bestimmten Kontext in einem 2021 gedrehten Film verglichen mit dem Fehlen solcher Untertöne gegenüber dem Mann im ähnlichen Kontext in einem 1986 gedrehten Film?

Nach der Filmvorführung die Diskussion im Kinosaal: “Sie hätte zu ihrem Boyfriend gehen sollen, sagen sollen, guck, ich habe mich in jemanden verliebt, kannst du mir helfen, mit dir darüber hinwegzukommen?”

So die Wortmeldung einer Frau aus dem Publikum…

Spießertum erstreckt sich offenbar über alle Ebenen des Daseins. Hier sind die Schichten mindestens drei. Die erste Ebene ist die offensichtliche: Die Fiktion wird als ein Dokumentarfilm angesehen und als ein Ansporn zur Beratungsrunde. Die zweite Ebene besteht in der Unfähigkeit zu erkennen, dass der Moralismus in einem Film nicht die Natur der Dinge widerspiegelt, sondern meistens die Sichtweise im Skript. Es gibt noch eine Schicht: Sie besteht darin, in den Individuen Diener von Allgemeinbegriffen wie “Schulklasse”, “Unistudium”, “Beziehung” zu sehen statt umgekehrt in den Allgemeinbegriffen Funktionen, deren Argumente die Individuen sind. Hier ist nicht nur Spießertum, sondern auch archaischer Kollektivismus zu erkennen.

Und ja, Frauen sind oft sehr spießige und orthodoxe Großinquisitoren, wenn andere Frauen das Thema sind.

Greta spricht alles in allem ein echtes Problem an, vergisst aber, dass es oft Frauen sind, die Impulsivität beim Mann feiern und bei der Frau ablehnen.

Gleichzeitig ist sie erst sechzehn. Etwas Geduld und ihr werdet Augen machen…

Momentan kann ich nur den Film empfehlen: Renate Reinsve als schlimmster Mensch der Welt. Regie von Joachim Trier.

Enough with scrolling

My daughter Greta is sixteen and she says things like “If a woman follows her heart, then people say she’s the worst person in the world. If a man does so, he’s celebrated”. Highbrow!

I watched Joachim Trier’s Worst Person in the World (two Oscar nominations) and I loved it, and I liked the protagonist and her role as a woman who quits medicine for psychology, quits psychology for a guy named Aksel, breaks up with Aksel for a guy named Eivind, breaks up with Eivind – period…

And I thought of my daughter’s dictum later in the night when I had this reminiscence to Woody Allen’s Hannah and her Sisters, where, of course, the moralistic undertone (“worst person” huh?) is absent because the impulsive person who follows his heart there, is Hannah’s husband, a man – the role is played by Michael Caine.

Isn’t it strange to have moralistic undertones towards women concerning some issue in a film made in 2021 but none of a such towards men concerning the same issue in a film made in 1986?

After the performance, discussion on the film in the cinema. “She should go to her boyfriend and tell him, look, I fell in love with someone, can you help me get over it?”

The person who said that was a woman…

Now, there is some philistinism here on many levels: the obvious philistinism consists in looking at a work of fiction as if it were a documentary, and making moral judgments. The other is the inability to realise that moralism in films is given by those who made the film, to be mostly independent of the nature of things. And one more layer of philistinism consists in believing that individuals are there to serve general notions like: “school class”, “university studies”, “relationship” etc.; consists in failing to see that, on the contrary, it’s the general notions that are there to serve individual needs. But is this last layer only one of philistinism or is it also archaic collectivism?

And yes, women are often the harshest philistines and bishops of the inquisition when other women are the issue.

So, my daughter Greta addresses a real problem but she forgets to say that it’s women who celebrate men in love, women who condemn women in love.

Well, Greta is still only sixteen. Wait and see…

For now, just watch the film: Renate Reinsve is the Worst Person in the World, directed by Joachim Trier.

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Jesus, Janis, Yanis

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“Notes from the Overfed”, eine von Woody Allens Kurzgeschichten aus der Sammlung Getting Even, soll beim fast gleichzeitigen Lesen von Dostojewskij sowie Weight-Watchers-Magazin entstanden sein und zum Schluss einen grotesken Zusammenhang zwischen Existentialismus und Gewichtabnehmen herstellen. Mir gingen ähnlich groteske Zusammenhänge durch den Kopf beim fast gleichzeitigen Lesen von Dostojewskijs Allegorie des Großinquisitors aus den Brüdern Karamasow – ich meine nämlich, dass es eine Allegorie ist – und dem Blogposting von Yanis Varoufakis mit dem Titel “Are the Best Things in Life Free?” – einem Reposting der Kolumne Opinion aus den New York Times des 10. Dezember zu Coco Chanels bejahender Antwort auf die Titelfrage.

Was die zweite Quelle anbetrifft, stimme ich mit Coco Chanel überein: Die besten Sachen in der Welt sind tatsächlich umsonst oder fast umsonst: die Luft, die wir atmen, das Wasser, das wir trinken, die Liebe, wofür wir gern leben, sind Beispiele, die sofort in den Sinn kommen. Zwar kann man für Liebe zahlen, mit der eigenen Kaufkraft das Jawort eines anderen Menschen vor dem Bürgermeister erleichtern, einen Hund kaufen, aber die Liebe, die wir meinen, wenn wir nicht vulgär sein wollen, ist eine andere. Eindeutig.

Bei Dostojewski, der ersten Quelle, ist die Sache etwas weniger eindeutig. Das Szenario: Im Sevilla der frühen Neuzeit erscheint ein Mensch, der wie Jesus auftritt: charismatisch, wundertätig, gleichzeitig ohne ersichtlichen Grund an seiner göttlichen Kraft Zweifel aufkommend lassend. Da jedenfalls viele glauben, dass er der wiederkehrende Jesus ist, wird er wegen Gotteslästerung verhaftet. Im Kerker – von dem er sich nicht eigenmächtig befreit, um endgültig zu beweisen, dass er Gott ist, ganz so wie Jesus am Kreuz oder auch so wie die meisten Opfer gerichtlicher Fehlentscheidungen – stattet ihm der Großinquisitor einen Besuch ab.

Um ihm mitzuteilen, dass er ihn wegen blasphemischer Anmaßung hinrichten lassen will? Fast, aber nicht ganz. Er will ihn zwar hinrichten lassen, allerdings nicht wegen Blasphemie, sondern weil er, der Großinquisitor, glaubt, dass der Gefangene tatsächlich Christus sein könnte. Als Christus hätte aber dieser den Menschen klare Zeichen seiner Göttlichkeit geben können: etwa Brot, ein Haus – “Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz?” sang ihrerzeit Janis Joplin. Das war freilich ironisch von Janis und wer im Kopf behält, dass sie Kris Kristoffersons “Me and Bobby McGee” interpretierte – “Freedom ain’t worth nothing but it’s free” – kann ahnen, dass es Sachen gibt, die umsonst und ihr wichtiger waren als deutsche Autos.

Anders als Janis in ihren bekanntesten Songs erscheint Yanis im vorgenannten Blogposting vom Projekt einer nachfrageorientierten Volkswirtschaft durch und durch überzeugt. Eine zivilisierte Gesellschaft solle Bürgern ein Dach überm Kopf liefern. Die hohe Wahrscheinlichkeit, dass letztere erstere ausnutzen, scheint ihm nichts auszumachen. Dostojewskij sieht die Sache anders. Sein Jesus gibt seine Göttlichkeit nicht preis und den Menschen keine verlässlichen Geschenke, da es ihm darum geht, ihnen die Freiheit zum Glauben zu lassen. Jesus geht es um die Liebe der Menschen um der Liebe willen.

Wer schert sich um die Freiheit, wenn sie nicht essbar ist? – entgegnet der Großinquisitor. Die Pointe ist ernstzunehmen. Für mich allerdings, der ich ständig jungen Leuten rate, sich ihren Neigungen hinzugeben, auch wenn sie damit keinen Lohn ernten, erscheint diese Pointe destruktiv. In meiner Haltung und in Dostojewskijs Allegorie des Großinquisitors spiegeln sich die Stellen 5.Mose 8; Mt 4,4; Lk 4,4 wider: “Der Mensch lebt nicht vom Brot allein”. Für destruktiv halte ich den Großinquisitor, weil die Schenkung von Brot durch einen allmächtigen, oder auch nicht allmächtigen Vater, den Menschen nicht die Freiheit lässt, jenen zu lieben oder nicht. Sie müssen ihn vielmehr lieben. Wer kostspielige Sachen schenkt, verzichtet so gewissermaßen auf kostenlose Sachen wie die Freiheit und die Liebe. Und Coco Chanel hat ja gewusst: die kostenlosen Güter sind die besten.

Nach der Bescherung ist alles so viel schwieriger…

“Notes from the Overfed”, one of Woody Allen’s short stories from the collection Getting Even – the one on an alleged interface between existentialism and obesity – was inspired in a flight in which Woody read almost sychronically Dostoyevsky and the Weight Watchers Magazine. Today I had the opportunity to be inspired in much the same way after reading Dostoyevsky’s allegory of the Grand Inquisitor – I think it is an allegory – from Brothers Karamazov and the New York Times’ Opinion column of December, 10th titled: “Are the Best Things in Life Free?”, as reposted by Yanis Varoufakis in his blog. Like Woody, I discovered a grotesque connection.

As pertains to the second source I agree with Coco Chanel: the best things in life are free or almost free: air to breath, water to drink, love to make life worth the pains, are ready examples.

It’s not quite uncommon to buy love, to make someone say “yes” during your wedding because you’re loaded, to bribe your dog. But it’s one thing to be serious about the meaning of love and another to make sarcastic jokes about it. I believe that most of my readers share this intuition with me.

Dostoyevsky, the first source, is a more difficult case in terms of intuitions. The plot: in early-modern Seville, a charismatic man appearing to be Jesus makes miracles but allows doubts on whether he really is Jesus (why? – we don’t know). Many believe that he is Jesus anyway which is the reason why he gets arrested with the charge of blasphemy. The Grand Inquisitor pays him a visit in his cell.

You may assume that the Grand Inquisitor wants to let him know that he’ll have him executed because of blasphemy. This is close but not quite true. He will have him executed alright… But his rationale is that the detained might be Jesus after all. If so, then, as God, he could have easily forced human beings to accept Him as a divine person by giving them gifts: bread, real estate or what have you. Janis Joplin used to sing “Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz”. This is, of course, ironic and those who can recall that she interpreted Kris Kristofferson’s “Me and Bobby McGee” will remember that she preferred freedom to German cars and this although or because “freedom ain’t worth nothing but it’s free”.

Unlike Janis, Yanis is a scholar very dedicated in demand-oriented financial policies. In the aforementioned posting he claims that a “civilized society” must guarantee a minimum wealth and housing to everone. The rather high probability by which citizens would exploit such a society while maintaining their loyalty and sympathy towards it on the surface doesn’t seem to annoy him.

Dostoyevsky shows a deeper insight into human matters. He suggests that a God wo bribes human beings for their love deprives them of their freedom to believe or not. Would you fail to have faith to someone who organizes a big showdown to give you bread, truffles, cars, real estate? Thus justified love and faith are the unfree love and faith of a prostitute. However, the Grand Inquisitor insists, who bothers to justify better something that can’t feed the hungry? This is a point you cannot easily dismiss.

You cannot easily dismiss it, but as someone who constantly advises young people to take the freedom to study the subject they love even if it’s not lucrative, I take the Grand Inquisitor’s point to be destructive. I believe that Dostoyevsky alludes here to Deuteronomy 8; Mt 4,4; Lk 4,4: “Man shall not live by bread alone” and that he gives a great example of what happens when expensive things are supplied by a mighty or not so mighty father or by the civilized society: things like freedom and love, normally for free, disappear because no options are left if you accepted a present. If like Coco Chanel you believe that the things that are for free are the best, this is bad.

After the Christmas presents are given, everything is so much more complicated…