Carmen et carnem

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Elisa und Laurence bestätigten mich, sonst hätte ich nie gedacht, es ihren Eltern und den restlichen Freunden als Weekend-Highlight vorzuschlagen: mittelalterliches Essen plus ein paar Carmina. Damit meine ich Carmina plus Originalmusik aus dem Codex Latinus Monacensis 4660; nicht Orffs Musik dazu, die als Carmina Burana bekannt zwar Gedichte aus CLM 4660 enthält, aber eben Orff und nicht mittelalterlich ist.

Meine Lehren aus der Aktion: Beim byzantinischen Traganos hat die Tomate gefehlt, die man aus den modernen griechischen (Trachanas) und türkischen (Tarhana) Varianten kennt. Beim Risotto aus der Lombardei enthalten in diesem königlichen englischen Rezeptbuch des 15. Jahrhunderts hat ebenfalls die Tomate gefehlt. Und, mein Gott, warum so viel Safran, Zucker und Zimt? Als würde der Luxus den Geschmack ausgleichen… Das heutige Risotto Milanese (offensichtlich ein Nachkomme des Gerichts, Mailand ist ja in der Lombardei) verzichtet wenigstens auf Zimt und Zucker zugunsten des Parmesans.

Aber zurück zur in der mittelalterlichen Küche absenten Tomate: Die Entdeckung Amerikas war eindeutig eine sehr schöne Idee. Elisa verlangte zudem während des Abends nach Pommes und, als wäre das nicht genug, machten die Jungs der Clique den Kühlschrank auf…

Die antike Küche hatte mit der Fischsauce (garum), dem libyschen Fenchel (silphium, asafoetida) und der Feige viel mehr Würze gehabt als die mittelalterliche – das jedenfalls, was die Freunde und ich am Samstag kochten – und man kann es nur verstehen, dass in der beginnenden Neuzeit Vasco de Gama und Magellan und die Spanier und die Portugiesen ihre Leben riskierten und Konflikte hatten, meistens um Gewürze nach Europa zu bringen.

In Sachen Musik und Poesie nun: Eine Gitarre allein ist für die Musik aus dem mittelalterlichen Tabernaculum etwas zu wenig und ich habe es vermisst, dass mein Publikum mir etwas rhythmischen Hintergrund liefert. Von mir aus auf dem Tisch klopfend. Eine Flöte hatten wir nicht. Einen Flügel zwar, aber das wäre ein zu großer Anachronismus. Die frechen Lieder der Vagantes, der belesenen und umtriebigen Landstreichermönche, strotzen oft vor Witzen aus dem Trivium-Unterricht. Manche habe ich früher in Basel als eine immersive Einführung in meine Geschichtsepochen benutzt, manchmal mit Änderungen an Stellen, wo der Text nicht ganz jugendfrei ist, aber ich benutzte dafür textlich einfachere Lieder wie z.B. das Exiit diliculo, einen unglaublichen Ohrwurm, mit dem mich meine Ehemaligen bei zufälligen Begegnungen an der Freien Strasse oder auf der SBB-Passarelle manchmal immer noch überraschen.

Andere beziehen sich explizit auf auctoritates wie z.B. Alte clamat Epicurus presents a humorous thought experiment of a hedonistic religion.

Andere wiederum sind doppelbödig. Olim lacus colueram sieht in einem schwarzgebratenen Schwan ein Gegenbeispiel zum Paradebeispiel des deduktiven Syllogismus: Alle Schwäne sind weiß – Die Vögel am See sind weiß – Also brauche ich diese Vögel nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie weiß sind.

Musikalisch wie poetisch ist aber Fas et nefas mein Lieblingslied aus dem Zyklus. Hier wird Aristoteles’ berühmtes Argument aus der Nikomachischen Ethik gegen Platons Auffassung des Guten skandiert (🎼bonum est secundum quid et non absolu-uuuu-te🎼). Die Stelle säumen Zitate aus Aristoteles sowie aus der spätantiken Sprücheanthologie Catonis disticha.

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Elisa and Laurence found it great, the idea, otherwise I wouldn’t have suggested it to their parents and the other friends as a weekend’s highlight: some medieval recipe plus some of the carmina. By carmina I mean original songs and music contained in the Codex Latinus Monacensis 4660, not Orff’s oratorium which does contain partly songs from CLM 4660 alright but puts them in new music.

The lessons learned: Tomato, indispensable in its modern Greek (trachanas) and Turkish (tarhana) variants, would have enriched the Byzantine traganos immensely. The same observation in this predecessor of risotto Milanese, a Parmesanless “Lombard risotto” (Milan is in Lombardy) according to this royal English recipe from the 15th century: where’s the tomato? Apart of this, why so much saffron and sugar and cinnamon? As if luxury could compensate for the lack of taste. The discovery of America was obviously a splendid idea.

Characteristically enough, Elisa asked to make some potato chips in Sabine’s fritteuse. As if this hadn’t been enough, the boys of the company opened the fridge…

With garum, the fish sauce, silphium or asafoetida, the Libyan fennel, also with figs, the ancient kitchen presented many more ways for seasoning compared to the mediaeval – at any rate more than the food we prepared. I understand suddenly why Vasco de Gama and Magellan, the Spaniards and the Portuguese risked their lives and launched conflicts to bring spices to Europe.

Music and poetry now: a guitar alone is too poor an accompaniment for music coming out of the mediaeval tabernaculum. I wished my audience to underscore the music with the beat of their hands on the table. There was no flute there. A piano we had, but what an anachronism…

The nasty lyrics of the vagantes, the studied outcasts and punks of the Middle Ages, are often full of jokes that come directly out of trivium classes. In Basel I used to enable immersion with them, obviously changing the wording in the obscene parts. I used rather simple songs like Exiit diliculo, an incredibly penetrant melody, with which alumni have surprised me in random meetings at Freie Strasse or Basel Swiss Station. Last Saturday, however, I realised that other songs from the same collection are much more multidimensional.

In Olim lacus colueram a very well-known example of deductive reasoning from the mediaeval classroom (All swans are white – The birds at the lake are swans – I conclude that the birds at the lake are undoubtedly white (even if I don’t see them)) is given a counter-example of a roasted swan turned black. Alte clamat Epicurus presents a humorous thought experiment of a hedonistic religion.

But my favourite, both musically and poetically, is Fas et nefas in which Aristotle’s famous argument from the Nicomachaean Ethics against Plato’s understanding of the good is reviewed (🎼bonum est secundum quid et non absolu-uuuu-te🎼) along with other quotations from Aristotle and the late ancient collection of ethical aphorisms titled Catonis disticha.

Cygni

https://youtu.be/1Kj3IPPfayA

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Ich vermute, dass das mittelalterliche Studentenlied Olim lacus colueram, eine Klage des gebratenen, ergo nicht mehr weißen Schwans, nicht nur eine groteske Persiflage fürs Trinkgelage ist, sondern auch ein Logiker-Witz als Gegenbeispiel zum Paradebeispiel eines Majors: “Alle Schwäne sind weiß” – einem schon im Mittelalter jahrhundertealten.

Ich liebe das Thema. Alle Schwäne sind früher oder später nicht weiß. Blasse Abbilder ihrer einst glänzenden Vergangenheit. Nichts ist für immer. Die Studenten des Mittelalters brauchten keine neuseeländischen schwarzen Schwäne zu sehen, um ihren Profs die Grenzen der Logik und des Lebens zu zeigen.

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I suppose that the medieval song Olim lacus colueram, the lament of the roasted swan deploring not being white anymore, is not only a grotesque, humoresque drinking song of students, but also a logicians’s joke and a counterexample to the exemplary major premise “All swans are white”, employed in syllogistic courses throughout the centuries.

I love the topic. All swans are sooner or later not white and lost in darkness. Nothing is forever. Medieval students didn’t need to come across black swans from New Zealand to point out to their professors the limits of logic. And of life.

Oh, you crane…

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Ibykus, der Lyriker, soll bei Korinth von Räubern überfallen worden sein, die sein Geld und sein Leben wollten. In diesem Zusammenhang erwartet man eine Disjunktion (“Dein Geld oder dein Leben”). Aber diese Räuber waren vielleicht Sadisten, so dass Ibykus, kurz vor dem Tod, diese vorbeifliegenden Kraniche, die einzigen Lebewesen außer seinen Mördern weit und breit, angerufen hat: “O, Kraniche, zeugt ihr, bitte, von meinem Schicksal, damit diese Verbrecher ihre gerechte Strafe finden”. Die Verbrecher verhöhnten Ibykus für die Unbeholfenheit seiner Zeugenvorladung und ermordeten ihn, um irgendwann das Geld des Unglücklichen auf dem Markt von Korinth auszugeben, als wieder Kraniche im Himmel auftauchten. Belustigt rief einer der Scheusale aus: “Da sind wieder die Kraniche des Ibykus”, was ein indirektes Geständnis war und so von den Umstehenden verstanden wurde. Durch den Selbstverrat hatten die Kraniche ein Zeugnis über die Umstände von Ibykus’ Tod abgegeben, die Mörder wurden gefasst. Das alles im 6. Jh. vor Christus.

Etwa zwanzig Jahrhunderte später, 1439, verließ eine bunte Delegation Venedig in Richtung Südosten. Unter anderen waren auf den Schiffen der oströmische Kaiser Johannes VIII, der vor ein paar Tagen unterschrieben hatte, dass die Ostkirchen Rom unterstehen sollten; ferner der Bischof von Kiew Isidor, der mitunterschrieben hatte; darüber hinaus ein eher machtloser Titularbischof, Markus Eugenikos, der nicht mitunterschrieben hatte; außerdem der Sekretär der Kaisers Georg Scholarios, in ernsthaftem Zweifel, ob der Tod des orthodoxen Patriarchen in einer Nachtpause der Verhandlungen auf Altersschwäche zurückzuführen war oder nicht (der Selige hatte ja vorhin angekündigt, nicht mitunterschreiben zu wollen) sowie ein lustiger Adjutant des Kaisers namens Iagaris, der in besagten Verhandlungen einen Kardinal beleidigt hatte. Der Römer hatte nämlich wissen wollen, aus welchem Material das Fegefeuer entfacht wird, woraufhin der oströmische Militär mit Hinblick auf das Alter des Fragenden sagte: “Etwas Geduld. Sehr bald erfährst du das ohnehin”. Der Tod war eine ständige Bezugnahme in diesen Verhandlungen, ob als theologische Frage oder als sarkastischer Witz oder schließlich, weil jemand das Zeitliche segnete.

Der Kaiser erreichte sein Reiseziel, die Reichshauptstadt am Bosporus, um zu erleben, wie Markus, der Oppositionsführer, die öffentliche Meinung gegen die Kirchenunion für sich gewann, und wie sein Vertrauter Scholarios zu Markus’ Anhänger wandelte. Isidor von Kiew erreichte dagegen seine Diözese, um die Akzeptanz seiner Herde zu erfahren. Von Iagaris’ Schicksal ist wenig bekannt. Seine Nachkommen sollen allerdings in Russland, nicht im mit dem Westen unierten Kiew, ihren Namen ins Russische abgewandelt behalten haben: Gagarin. Der berühmte Nachfahre Jurij Gagarin starb 1968 während eines Probeflugs. Ziehende Kraniche symbolisieren in Russland die Seele der gefallenen Soldaten. Vielleicht ist der Ursprung dieser Assoziation Michail Kalatosows legendärer Film Die Kraniche fliegen (1957). Boris’ Seele fliegt mit den Kranichen davon, während Veronika ausgerechnet im Moment, als ihr schlimmster Albtraum sich als Realität erweist, neue Hoffnung fasst.

Ich frage mich diese Tage, wem unter den Boris’ und den Veronikas in Mariupol, Kiew, Charkiw und auch der Weltöffentlichkeit bekannt war oder ist, dass der erste Anstoß für das Blut und die Tränen, das Leid und den Zorn der letzten Jahre und Tage bereits im 15. Jh. gegeben wurde, als ein Kirchenmann aus Kiew eine Stadt machte, die sich dem Westen eher als dem Osten zurechnete; auch als geflüchtete byzantinische Aristokraten, die dem Westen feindlich gesinnt waren, weit östlich von Kiew entfernt eine neue Heimat fanden.

Isidor und Iagaris, der Okzidentalist und der Orientale, diese stummen Gestalten der Vergangenheit, die sind in unserem Fall die Kraniche des Ibykus. Sie sagen nichts und das, was sie damals machten, blieb vorerst ohne große Folgen. Heute aber zeigen sie sehr wohl an, was für ein Riesenverbrechen aus dem kleinen Wunsch resultieren kann, das Taschengeld eines armen Lyrikers zu haben.

PS: Mein heutiges Wortspiel hat nichts mit der Etymologie des Wortes “Ukraine” zu tun, das wörtlich “an der Grenze” bedeutet.

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The legend goes like this: on his way to Corinth, the lyric poet Ibycus was surprised by robbers who wanted his money and his life. The robbers’ attack was not less surprising than their use of the conjunction. Normally, criminals would use a disjunction. But let’s say that these robbers were sadists. On the verge of death, Ibycus turned his eyes around to see if there is some help from someone passing by and saw only a flock of cranes to appeal: “Oh, you cranes, tell my story so that these criminals might be punished”. The murderers derided Ibycus’s witness summons, to spend the dead poet’s money at a later time at the marketplace of Corinth when cranes were heard overhead again for one of the criminals to mock that Ibycus’s witnesses finally gave their testimonies. Some heard this and perceived the statement as the plea of guilty, which it was. The criminals were prosecuted and punished. It was the 6th century BC.

About twenty centuries later, in 1439, a foreign delegation was leaving Venice to return to the East. Its head was the Eastern Roman emperor, John VIII, who had just signed an agreement to give the Pope the authority over the East Churches. Another delegate who had signed was Isidor, the bishop of Kiev. In fact, the only delegate who did not sign and survived was a hierarchically rather unimportant man, Mark, the titular bishop of Ephesus. The emperor’s secretary, George Scholarius, had serious doubts about whether the Orthodox patriarch had died a natural death during a night break of the Ferrara negotiations. He had announced that he would not sign. Iagaris, a humorous officer of the imperial guard, was also on board and in the process of losing sympathy for the emperor’s signature. In fact, in Florence (the negotiations were multi-campus) he had insulted an elderly cardinal who asked himself about the material out of which the purgatory was sparked off. He had said “At your age, you won’t have to wait long until you find out”.

Obviously, death was a steady reference in these negotiations of the years 1438 and 1439. Jokes about death, theology concerning death, real death…

Back in the Byzantine capital, the emperor was surprised by the public’s open hostility against himself and their support for the relatively unimportant Marcus. He was astonished also when his trusted Scholarius mutated to anti-Papism. In contrast, Isidor arrived in Kiev to face no problems at all. His diocese hailed the Pope as their new head. Nothing is known about Iagaris’s, the impertinent military’s destiny. His progeny, however, is said to have found a new home in what is today Russia; in fact to have kept their name in a Russified form: Gagarin. Yuri Gagarin, the most famous bearer of the name, died in 1968 during a trial flight. Cranes in Russia are considered to be a symbol of the fallen soldiers. The beginning of this symbolism might be the legendary movie The Cranes Fly (1957), directed by Mikhail Kalatozov. Boris’s soul flies away with the cranes and Veronika regains hope exactly at the moment she realises that her worst nightmare came true.

I ask myself whether many of the Boris and Veronikas in Mariupol, Kiev, Kharkiw or around the world know that the first instigation of the blood and the tears, the suffering and the wrath of the last years and days was given in the 15th century when a priest arrived in Kiev to make it a town to recognise the Pope and when the Byzantine antipapists migrated eastwards just to avoid this.

Isidor and Iagaris, the pro-West intellectual and the anti-West soldier, are silent witnesses of the past, and ones who play the role of Ibycus’s cranes: they say nothing today on the war in Ukraine and what they did in the past was not very remarkable. Nevertheless, they show that stealing a poet’s few belongings is a huge crime.

PS: Today’s pun is not really related with the etymology of “Ukraine”, which means “borderland”.

Under too many layers

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Die Nachrichten: Die Hagia Sophia soll wieder eine Moschee werden. Das gibt mir den Anlass, meine Assoziationen zur Kirche (sorry: zum Gebäude) zu schildern. Sie sind mehrbödiger als Baklava und folgende:

Zur Moschee wurde die Hagia Sophia zunächst 1453, als die Stadt (DIE Stadt – urbs) von osmanischen Truppen im Mai überrannt wurde. Zu der Zeit war sie eine römisch-katholische Kirche im Sinne der Kirchenunion von Ferrara-Florenz des Jahres 1439. Die Orthodoxen, diejenigen jedenfalls in der Stadt, die gegen die Union waren, haben sie 14 Jahre lang gemieden, bevor sie zur Moschee wurde. Sie spielten mit dem Gedanken, Hussiten zu werden, egal…

Noch vier Jahrhunderte vorher war in der Hagia Sophia der Philosophenmeister (“hypatos ton philosophon”), Johannes Italos, vom Unterricht am Konstantinopler Hofseminar feierlich suspendiert worden. Wegen Aristotelismus. Und wegen zuviel Logik im Unterricht, wie die Kaisertochter Anna Komnena in ihren Memoiren (Entschuldigung liebe Wertneutralität, wenn ich hinzufüge: schamlos) zugibt. Noch heute wird am ersten Sonntag der Großen Fastenzeit in jeder orthodoxen Kirche der Welt das Anathema gegen die Philosophie wiederholt, das damals dort verlesen worden war. Ungefähr aus derselben Zeit stammt die Nestorchronik, welche die Christianisierung der Kiewer Rus unter Wladimir I. auf die Begeisterung der Kiewer Abgesandten in der Hagia Sophia zurückführt. Hoffentlich nicht während des o.g. Zeremoniells gegen Johannes Italos. Ein Dutzend Jahrzehnte später wurde die Kirche von den Kreuzrittern des Vierten Kreuzzugs geplündert.

Geplündert stand sie weiter, wie sie heute steht. Stehen sollte bald ihr Name, übrigens in der Landessprache als Fremdwort mit der neugriechischen Aussprache erhalten geblieben, auch für die kollektive Entität aller heiligen Menschen. Die göttliche Weisheit: Das sind wir. Dieser, ursprünglich russische, Volksglaube wäre ohne das Gebäude wahrscheinlich nicht entstanden. Auf diesen Glauben ist einer der wenigen Versuche zurückzuführen, aus der Orthodoxie eine moderne Konfession zu machen. Sergej Bulgakov, ein Wirtschaftswissenschaftler und einstiger Weggenosse Lenins, versuchte im Pariser Exil, der Kirche unserer Vorfahren eine christsozialistische Gestalt zu verleihen. Sophiologie nannte er die neue Doktrin. Die Gemeinschaft der Idioten ist weise. Das ist meinerseits nicht ironisch gemeint.

Ja, die Hagia Sophia ist eine grandiose Fortentwicklung des architektonischen Konzepts des Pantheons von Rom; einer Stadt würdig, die Neurom heißen wollte; und – trotz Johannes Italos – Symbol von Weltbürgerlichkeit. Der einstige Notre-Dame-Kanoniker Étienne Tempier, der als Bischof den Aristotelismus im Werk von Thomas von Aquin verurteilte, reicht nicht aus, um die Notre Dame zu blamieren. Die Hagia Sophia ist ebenso resistent gegen in ihr begangene Dummheiten. Das zum einen.

Zum anderen habe ich in keinem Museum der Welt so viele gelangweilte, geistig abwesende Besucher angetroffen, nach dem Motto: “Sie haben alle gesagt, zumal wir hier sind, müssen wir das besuchen. Groß ist es schon…” Oder kennen meine Leser etwa ein Museum in dieser Welt, wo die Kunstwerke nicht bewundert werden? Ich kenne eines: die Hagia Sophia. Das Augenmerk des “Ausstellers” fällt ja nicht auf die Kunst, sondern auf das historische Faktum der Eroberung. (Fremdländische Ansätze der auf Erwachsene abzielenden Museologie können mir vielleicht egal sein. Aber im Sinne der Museumspädagogik: Was ist das für eine Erziehung für die Kinder, die das Museum besuchen?)

Meine letzte Assoziation jetzt:

Es gibt überall zweckentfremdete Gebäude. Ein zweckentfremdetes Gebäude aber, wo der neue Nutzer jahrhundertelang außer Stande war, wenigstens über die Zerstörung hinwegzutäuschen; darüber zu glätten und zu polieren, so dass der Besucher nicht denken muss, dass die Zerstörung zum Stolz des neuen Nutzers gehört – ja, ich war schon in der Mezquita! – hatte ich nie gesehen. Bis ich die Hagia Sophia besuchte.

Und jetzt soll es eine wichtige Nachricht sein, dass sie wieder zur Moschee wird?

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What you see in the two last pictures are marble fencings of the empress’s gallery in the Hagia-Sophia church – oops, sorry: museum – oops again: mosque in Constantinople – oops…

Anyway, you get the idea… The new masters (“new” is more or less a façon-de-parler since they’ve been there since 1453) gouged out the Christian Symbols but left the destruction for everyone to see.

Some amount of destruction is there when you dedicate a building to another purpose than the one it originally served. The Mezquita of Córdoba is a handy example of a mosque that was rendered vice versa to a church with a vast change of the central part of the original structure. However, the new masters there did bother to make the destruction unseen, tried to embed a cathedral into the mosque without the malicious gesture: “Har, har, har: see what I did?” In the Hagia Sophia, the tidying up of the traces of the destruction didn’t happen in the last five-and-a-half centuries. Now, it will become a mosque again. This gives me the motivation to deploy my associations pertaining to the building. They have more layers than the baclava served outside it and are the following:

As I said, the Hagia Sophia was first rendered to a mosque in May 1453 when the Ottoman army conquered the city. When this happened it had been a Roman-Catholic church for 14 years, following the church union of Florence in 1439. The Orthodox, those at any rate who were against the union, have avoided the church and services given in it for a decade-and-a-half before it became a mosque.

Four centuries earlier, the Hagia Sophia had been the site of John Italos’s condemnation. John was an Italian-Norman logician who had the title of the master among the philosophers (“hypatos ton philosophon”). Accused by the emperor’s daughter Anna Comnena of too much Aristotle and logic in classroom, he was removed from office and ceremonially so in the greatest of all churches. Anna Comnena must have been a horrible student. In spite of everything, her style is not devoid of charm and I do have respect for a woman author in the Middle Ages. At the same time, it is disgraceful to make your dad, the emperor, fire the professor whose subject you failed. And then, for all of us, it is even more disgraceful to recite since then, every year on the first Sunday of the Great Lent, in every Orthodox church, for almost one thousand years now, the same anathema against philosophy that was released there and then.

It was the time when the Russian Primary Chronicle ascribed to the impressive church the decision of Vladimir I to have his subjects baptised according to the Byzantine rite. A church which was to be looted by the crusaders a century and something later.

This notwithstanding, its name, still preserved until today as a Greek loan, came up to stand also for the collective entity of all saints: wisdom is sanctity and sanctity is the mereological whole of us all. This, originally Russian, popular faith was arguably inspired by the church of the Holy Wisdom. When Sergey Bulgakov, the economist and philosopher, denounced his former comrades to Lenin’s great bitterness, and attempted from his Parisian parish to renovate Orthodoxy to be a more liberal denomination, he called the new doctrine sophiology – alluding to the aforementioned popular faith. Even if each of us is an idiot, we are wise when taken as a whole.

A bigger Pantheon in a city called New Rome and thereby a symbol of cosmopolitanism in spite of the John-Italos episode. If Étienne Tempier, the bishop of Paris who condemned the Aristoteliansm in Aquinas, is not enough to debase the Notre-Dame of whose chapter he had been the chancellor, then Hagia Sophia remains also undegraded in spite of the unpleasant episodes in it. On one hand…

On the other, in no other museum have I met so many bored people ticking off one more must-see from their tourist guide. Which is quite understandable since the focus of the Hagia-Sophia Museum is not on its art but on the historical event of the conquest. And, I mean, come on: even if I don’t care about the museological concepts in far countries, I am still concerned about the education they give to their children…

This is why I think that rendering the Hagia Sophia to a mosque is not the important news about it.

Pasta ontology

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Gattungsnamen werden in der Sprache meistens wegen des Stoffs ihrer Referenz gebildet. Alles, was mit Eier enthaltendem Nudelteig gemacht und in Wasser gekocht wird, heißt Pasta, ob Spaghetti oder Pappardelle oder Farfalle oder Puntalette oder… Es sind die Zutaten, die bei der Namensgebung von “Pasta” Pate stehen! Wer meint, mir gehe es um Don Corleone, kennt dieses Blog nicht.

Denn es gibt Pasta außerhalb Italiens und Appellativa, die sich nicht auf Stoffliches beziehen.

Der Trachanas war jahrhundertelang die haltbare Substanz der byzantinischen Armeeküche. Die Osmanen haben die byzantinischen sonnengetrockneten Brösel aus in Ziegenmilch gekochtem Weizenmehl adoptiert und nur wenig anders als die Griechen ausgesprochen: Tarhana. Am Ende eines anstrengenden Wandertages brauchte der mittelalterliche vagans, ob Soldat oder Missionar, wenn er nichts anderes gefunden hatte, nur eine halbe Handvoll Trachanas und etwas Wasser für seinen Topf und sein Feuer. Der Trachanas, leicht über längere Distanzen zu tragen und in kleinen Mengen zu großen Suppen zuzubereiten, erhielt einen wochenlang am Leben und blieb, wenn er nicht aufgebraucht war, jahrelang haltbar bis zur nächsten Slawenmission. Aber auch nach den Slawenmissionen erwies sich der Trachanas manch einem Griechen als rettend. In Bonn, in den 90ern, während der griechischen Bankenstreiks, die mein Stipendium monatelang auf der Strecke blieben ließen, wäre es ohne Trachanas eng um meine Existenz geworden. Rafik Schami erwähnt ihn in einem ähnlichen Kontext.

An der mittleren Donau feierte der Trachanas größere Siege als die Konstantinopler Zeloten, ebenso als Istanbuler Janitscharen. Im Spätmittelalter wurde er in Ungarn adoptiert. Bis heute hasst manch ein ungarisches Kind eine gleichnamige oder fast gleichnamige Beilage; was heißt, es hasst Trachanas, wenn die Fast-Gleichnamigkeit als Synonymie oder – da Griechisch und Ungarisch verschiedene Sprachen sind – als Übersetzung gilt.

Vorsicht aber: Das ungarische Tarhonya ist zwar dem griechischen Trachanas und dem türkischen Tarhana zum Verwechseln ähnlich, weist aber keine Spur Ziegenmilch auf. Stattdessen hat es Ei. Mit anderen Worten ist Tarhonya nichts anderes als Pasta: eine Pasta, bei der der ungarische Versuch einzig und allein darin besteht, einem mediterranen Nahrungsmittel äußerlich zu ähneln. Denn lediglich Tarhonyas Form im Rohzustand erinnert – und zwar stark – an das byzantinische Original. Der ungarische Name in Anlehnung an einen mittelgriechischen weist auf eine Form-, keine Materienähnlichkeit hin.

Es ist nicht immer der Stoff, der für den Namen der Gattungsnamen ausschlaggebend ist. Darüber war ich mir schon mal im Leben mit einem anderen Philosophen uneinig. Einem hatte ich gesagt, dass die Farben nicht immer sekundäre Eigenschaften sind. Ich dachte dabei an handelsübliche Farbstoffe. Normalerweise ist es dem Käufer unwichtig, aus was der Farbstoff besteht, wenn die Farbe stimmt. Nein, sagte er, das sei falsch. Farben seien immer sekundäre, Zutaten dagegen primäre Qualitäten. Am Ende jenes Tages habe ich gewusst, dass es nicht klug ist, Recht zu haben, wenn die andere Person der eigene Doktorvater ist.

Jedenfalls ist es im Rigorosum so.

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Very often, the characteristic that determines the reference of an appellative is the material cause: we call pasta whatever consists of dough without yeast with eggs: spaghetti, pappardelle, farfalle, puntalette etc. All of them! Pasta! Because of the ingredients! Basta!

There are exceptions.

For centuries, prior to its arrival in Hungary, trachanas had been the dish par excellence of the East Roman army and afterwards of the Ottoman army. Made of a desiccated goat-milk-and-yoghurt-and-flour dough, it was predestined to stay preserved for years. The only thing the wanderer had to fill in in his saucepan and to place on a fire in the wilderness to get a filling soup, was some water and the trachanas granulate. Trachanas was easy to carry in long distances and kept travellers alive for weeks if necessary. At the middle course of Danube, it celebrated much greater victories than Byzantine missionaries and Ottoman soldiers.

“It” celebrated them, that is, if you happen to accept that the Hungarian “tarhonya” and “trachanas” refer to one and the same thing. However, the Hungarian thing has not any traces of goat milk or any other milk or dairy product. Instead, it contains eggs. In other words, unlike the Greek trachanas and the Turkish tarhana, the Hungarian tarhonya is nothing but pasta meant to have the shape of the Byzantine original. Which means that the meaning of a generic term to comprise these three dishes is the formal, not the material cause.

As one sees, it is not always matter that decides the meaning of appellatives. I argued about this with another philosopher once. He had said that colours are naturally secondary qualities, matter is naturally a primary quality of every thing. I had said (I was thinking of paint) that this is not the case. At the end of this conversation I learned that your oral exam is probably not the best place to argue with your supervisor.

Especially if you are right and he is wrong.

Ockham neither lies nor lies here

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Wenn ich dieses Blog für Reiseeindrücke gebrauche, dann meistens, um auf Verstecktes, Unbekanntes hinzuweisen. So z.B. auf die Höhle unweit meiner Wohnung in Attika, die Platon als Vorlage für das Höhlengleichnis gedient haben soll, oder auf die euböische Legende über die Gründe (und Meeresgründe), die angeblich am Tod des Aristoteles auf meiner (seiner) Insel schuld wären.

Vor einer Woche, wieder ausnahmsweise in München, was komisch ist, denn ich kann mich nach 23 Jahren dort wohl auch nach meinem Weggang einen Münchner nennen, dachte ich, dass ich wieder über einen philosophischen Blick hinter die Kulissen schreiben kann.

Das Münchnersein des Wilhelm von Ockham ist mit meinem vergleichbar: Ockham kommt 1330 (663 Jahre vor mir) als Ausländer an den Hof Ludwigs des Bayern. Richtig am Hof lebte er nicht, obwohl er oft dort – ein kaiserlicher Berater doch – gewesen sein muss. Der damalige Hof befindet sich südlich des heutigen Nationaltheaters. An Stelle des letzteren sowie auf dem weitläufigen Vorplatz, ein paar hundert Schritte vom Hof entfernt, befand sich damals das Franziskanerkloster, wo Ockham hauste, den Vorgänger des heute weltweit bekannten Münchener Franziskanerbiers trank und Polemiken gegen den Papst schrieb.

Siebzehn Jahre nach seiner Ankunft in München stirbt Ockham und wird im Münchener Franziskanerkloster  bestattet – so jedenfalls das Sterbejahr auf einem Grabstein, der allerdings keine zuverlässige historische Quelle darstellt, weil er aus dem Kirchenchor stammt, wohin Ockham lange nach seinem Tod umgebettet werden sollte. Komischerweise bittet allerdings ein Jahr nach dem Datum auf dem Grabstein, 1348 also, ein gewisser Münchner Guilelmus de Anglia den Papst um Vergebung. Als im frühen 19. Jahrhundert zwischen der neuen Residenz und dem Alten Hof das Bayerische Nationaltheater gebaut wird, weicht das Franziskanerkloster den Musen. 1932 entdeckt Lucas Wadding besagten Grabstein neu und unterstützt die These, dass dieser nur deshalb 1347 als Todesjahr angibt, um die Annahme zu bekräftigen, Ockham könne nicht der Münchner “Guilelmus de Anglia” sein. Rudolf Höhn pflichtete Waddings These bei. Unter den Ockham-Experten hielt nur Gedeon Gàl ab 1982 am Grabsteindatum fest – wohl zu Recht, nachdem er das Original der Petition wiederentdeckte, wo der besagte Münchner Guilelmus de Anglia als Freund Ockhams ausgewiesen wird – was wohl zeigt, dass er nicht Ockham war. Was für eine schöne Geschichte: Der Namensvetter und Landsmann in der Fremde: Der ja! Der konnte weiche Knie bekommen, das alte Franziskanersigel an den Papst Clemens VI. nach Avignon schicken und huldigst um Vergebung bitten; nicht jedoch Ockham, der unverrückbare Logiker, wo es doch darum ging, die Wahrheit zu verteidigen! Gàls Position erscheint schlüssig, aber mehr Beweisstücke wären natürlich hilfreich. Bloß gefunden konnten sie nicht mehr werden.

Ohne vorherige archäologische Untersuchung war 1963, was unterirdisch unter dem Kloster übrig geblieben war, der Tiefgarage gewichen, die man heute kennt. Nachdem ich diese ein paarmal in einem Vierteljahrhundert zum Parken benutzte (zunächst hatten wir einen Golf, einen weißen; dann einen roten Golf, Turbodiesel; dann einen Opel, das Modell weiß ich nicht mehr), habe ich sie nun zum ersten Mal als Pilgerstätte besucht.

Das unmittelbare Ambiente ist pietätlos, hat allerdings genau die Klarheit und die Wahrheit, die man von einem Logiker erwartet.

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Rarely, I use this blog to give glimpses the reader can expect to find in a philosophical Lonely Planet guide. But even then, they have to be very special, too well hidden behind the surface like the (literally subterranean) Plato’s real cave that turned out to be near my place in Attica or the (literally submarine) personal crisis that Aristotle allegedly failed to get over vis-à-vis the Euboean tides.

What I’m writing today will be something very similar and, indeed again subterranean.

In mid-June I visited Munich for a short time, which feels strange, especially the word “short”, since I lived there 23 years long. William of Ockham’s stay in Munich was only a bit shorter. He went there in 1330 (663 years before I did) and took refuge on Ludwig the Bavarian’s court. Albeit an imperial advisor, Ockham’s place was a monk’s cell in the back-then Franciscan abbey, a couple of hundred yards to the north of the court, where one finds today the Bavarian National Theater and the generous Max-Joseph Square in front of the loggia. There, Ockham drank the beer that was to become today’s famous Franziskanerbier of Munich and wrote polemics against the Pope.

Seventeen years after his arrival in Munich, Ockham dies and is paid the last respects there. Much later his grave is moved to the choir. In the early 19th century the Abbey makes place for the Opera (alias Nationaltheater). Lucas Wadding rediscovers in 1932 Ockham’s gravestone, i.e. the one that stood in the choir, according to which the venerabilis inceptor died in 1347. But, strangely enough, a petition sent to Pope Clemens VI in 1438, one year after the year of death on Ockham’s gravestone, a certain “Guilelmus de Anglia” sends the old seal of the Franciscan Order from Munich to Avignon and asks for forgiveness for decades of polemics. Rudolf Höhn publishes a picture of the gravestone in 1950 and, agreeing with the aforementioned Lucas Wadding, insinuates that the year 1347 on this stone was not only mistaken, but also intentionally so, due to the wish to see Ockham as a person who never apologised for his polemics against the Pope. Only Gedeon Gàl opposes to this position. In fact, Gàl rediscovers in 1982 the original of the petition in which said Guilelmus de Anglia is identified expressis verbis as Ockham’s friend. This straightforwardly means that he was not Ockham. The compatriot, an English émigré in Munich by the same name but without a logician’s firmness might lose his courage. Ockham however cannot but defend the truth! This is Gàl’s message. New evidence would have been helpful to back this nice story, one that was based on one single document. But in 1963 the underground parking lot in the form we know it today was built. The construction had made quick progress because no one remembered to ask the archaeologists to make an excavation first.

In the past quarter of a century I have used the parking lot under the Max-Joseph Square in Munich to park different cars we owned. First a white Golf, then a red Golf, then – I think – an Opel, don’t ask me about the model etc. In mid-June I visited it for the first time as a pilgrim.

The direct ambience is impious but it has exactly the transparency and truth you expect from a logician.

Frater Martinus O.S.A.

Exit from Furthmühlgasse to Michaelisstrasse

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Das Lutherjahr neigt seinem Ende zu. Fachlich hatte ich nichts dazu beizutragen. Auch in früheren Jahren waren meine Leistungen zur Lutherforschung gleich null. Ich bin kein Experte.

Persönlich verbindet mich allerdings etwas mit dem Augustinermönch und Erfurter Studenten. Denn im Sinne einer Panchronie war Luther in Erfurt mein Nachbar. Er wohnte im Augustinerkloster und sein Weg zur Universität brachte ihn eine Tür nach dem Amploniushaus, wo ich fünf Jahrhunderte später wohnen sollte.

Bestimmt ist sein Vorbeigehen an dem, was später mein Erfurter Hausstand wurde, eine Cambridge-Eigenschaft Luthers. Seine Präsenz dort vor einem halben Jahrtausend war allerdings keine Cambridge-Eigenschaft von mir. Wegen Luther hat mich nämlich meine Nachbarschaft immer wieder zum Nachdenken gebracht.

Ein paar Meter vom Amploniushaus entfernt, in Richtung Krämerbrücke, wohnte vor 500 Jahren Jodok Trutfetter, Luthers Logikprofessor, ein Nominalist. Luther war es trotz seiner Ablehnung der Logik als Instrument der Predigt wichtig, was sein Lehrer meinte. Also soll der Alumnus nach dem Thesenanschlag ein letztes Mal die Michaelistraße hochgelaufen sein zum Haus des Dialektikers, der nicht an die Tür kam.

Mit etwas Hus, etwas Wyclif, schließlich etwas Emotion statt Logik in der Predigt (zugegebenermaßen diesmal einer Neuerung) sollte die Reformation endlich Erfolg haben. Ich frage mich, ob die protestantische Predigt so dialektikfremd und das Herz ansprechend geworden wäre, wäre Luther ein besserer Logikstudent gewesen. Wenn seine auf Logik verzichtende Rhetorik neu war, ist das seine Theologie jedenfalls nicht. In puncto Transsubstantiation war er ein Nominalist, in puncto Vorsehung und Gnade ein Augustiner, in puncto Liturgie Hussit. All das muss er an der Erfurter Universität gelernt haben. Ohne die Prager Nominales, die während der hussitischen Unruhen nach Erfurt emigriert waren, wäre weder die alte Erfurter Universität gegründet worden noch, denke ich, der Protestantismus möglich gewesen.

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Enough with scrolling

With exhibitions, lectures, concerts, and cultural events of all sorts, Lutheran churches all over Germany celebrated the anniversary of 500 years since the posting of the 95 theses in Wittenberg. Posting something in this blog is the least I can contribute to the topic; but also the most since I’m not an expert.

This is not to say that I have restricted knowledge or a poor evaluation of the Augustinian monk and student of the Erfurt University. In fact, not many experts know what I know about one very special facet of Luther. In terms of the urban panchrony of downtown Erfurt, you see, Martin Luther was my neighbour. When he walked from the Augustinian Abbey, where he lived, to the Collegium Majus and the St. Michael, where he studied and celebrated the mass, he was only few yards away from the Amplonius House that was to become my place in Erfurt five centuries later.

This was a Cambridge property of Luther’s, however not a Cambridge property of mine. My neighbourhood at Michaelistrasse was giving me food for thought throughout my time there.

Only some fifty yards from my flat and five hundred years from now, was the place and time Jodok Trutfetter, Luther’s professor of logic, lived. Luther rejected logic as an instrument of rhetorical inventio, which is obvious in the 95 theses, but his nominalistic teacher’s opinion remained important to him. After the Wittenberg nailing of the 95 theses, an event that finally gave rise to Protestantism, Luther visited the Michaelistrasse and knocked on Trutfetter’s door not to be held worthy of reception.

Finally, the new theology Luther launched contained a Hussitic understanding of liturgy, an Augustinian understanding of providence (an Augustinian monk was he himself) and a nominalistic understanding of transsubstantiation – all elements he must have adopted at the old University of Erfurt, founded by Prague nominalists who had found refuge in Erfurt during the Hussitic uprising in what is now the Czech Republic.

I don’t know what would have happened if Luther had been better in Trutfetter’s class. Possibly, his preaching wouldn’t address emotion in the relentless manner it does. And, probably, he would have been less successful. Wyclif had been a reformer and logician – and what was made out of his teaching? Some incentives for Hussitism…

 

Polytechnites

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Lustig haben wir uns über ihn gemacht. Manche sagten, wir waren verwandt, aber das störte mich weniger, weil auf einer Insel jeder mit jedem verwandt ist.

Er hatte Aschenbecher mit all seinen Fertigkeiten ausdrucken lassen. Ein Logo prangte drauf und dann kam es:

Elektroinstallationen, Bewässerungstechnik, trockene Feigen, Bestattungen

Ich bin ihm im Endeffekt so ähnlich. Mein neuestes Buch, meine Habilarbeit, im Schnitt von Logikgeschichte, Ideengeschichte, Metaphysik kam vor ein paar Tagen raus.


Enough with scrolling

We were laughing at him. Some said he was my relative. I didn’t care because in an island you’re almost everyone’s relative.

He had ashtrays with his logo printed. And with every business he made ends meet with:

Electrical installations, irrigations, dried figs, funerals.

I’m so similar to him. My monograph to secure me the venia legendi, i.e. the right to professorial teaching in Central Europe, is at the interface of logic history, the History of Ideas and Metaphysics and was released few days ago.

Ecclesia

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Unzählige Episoden sind über die Hagia Sophia oder einfach die Große Kirche (megale ekklesia) überliefert, wie die mittelalterlichen Quellen sie oft nannten: mal blutige, mal geschichtsträchtige, mal mystische. Darunter gibt’s eine philosophische, tradiert von Anna Komnena, einer Kaiserstochter und Chronistin des 11. Jahrhunderts. Der zu Folge verantwortete Johannes Italos, Vater des logischen Hexagons der Privation, Verfasser eines genialen Organon-Kommentars, dessen kritische Edition nur in wenigen Exemplaren weltweit existiert, schließlich Platoniker, er verantwortete, sage ich, über all diese Dinge – über was denn sonst? Im Grunde über die Rolle der Vernunft im Glauben. Und da er einen vernunftdurchfluteten Glauben vertrat, haben sie ihn in der Hagia Sophia am Ende seiner Ausführungen…

…geköpft?

(frohlockte, als ich erzählte, der Erfurter Professor für theoretische Philosophie)

Nein! Gefeuert als Lehrer der kaiserlichen Ausbildungsstätte.

Enttäuschung beim Publikum… Philosophiehistorisch gesehen kann man mit der Hagia Sophia wirklich nicht viel anfangen. Philosophisch schon. Die klaren Formen, die nüchternen aber grandiosen Farben… Philosophen zelebrieren sich in der Hagia Sophia.

Jetzt, fast ein Jahrhundert, nachdem Kemal Atatürk sie zum Museum bestimmt hat, beschloss der türkische Staat, in der Großen Kirche den Koran lesen zu lassen. Große Entrüstung usw.

Nicht bei Philosophen hoffentlich. Wir sind an zeitlosen Strukturen interessiert. Politisches Muskelspiel auf symbolischer Ebene bemerken wir nicht einmal.

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If you’re a lover of the history of philosophy, you’ll not find much to inspire you in the Hagia Sophia, the Great Church (megale ekklesia) of the medieval sources. Among stories full of blood, historians’ ink or supernatural visions, the only thing you can find to be of some philosophical relevance is the condemnation of John Italos. The scribe and emperor’s daughter Anna Komnena recorded this 11th-century episode for posterity: John, the father of an hexagon of opposition that assumes two different types of negation, the author of an extraordinary commentary of the Organon – critically edited ninety years ago and circulating in very few hand-written copies – and a Platonic, was trialed in the Great Church and found to focus on reason more than on faith to be eventually…

…beheaded?

(that was the guess of the Erfurt professor of theoretical philosophy when I told him the story)

No!…Fired from his post as teacher at the emperor’s school of higher education.

Not very spectacular… But the building is spectacular, harmonious, it’s the best building that late ancient architecture has to offer. It’s inspiring to philosophers.

The inspiration will continue also after the Great Church is converted anew to a mosque in a few days and for a few weeks – almost one century after Kemal Atatürk turned it to a museum. But, frankly: so what? We’re philosophers, we love timeless structures, we fail to notice political symbolism.

Alexius Meinong und Jean-Paul Sartre im Nemanjidenreich

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Mütterlicherseits stamme ich aus dem griechisch-albanischen Grenzgebiet. Den dortigen Dialekt habe ich mich allerdings nie zu lernen angestrengt und zwar im Gegensatz zu meiner sehr guten Beherrschung des Inseldialekts meines Vaters. Der Grund dafür dürfte sein, dass sich das heutige Nordwestgriechisch auf unspektakuläre Weise vom Athener-Konstantinopler Standardneugriechisch phonetisch kaum unterscheidet – komischerweise, wenn man an die Abgeschiedenheit der Bergdörfer denkt – damit gar nicht archaisch klingt und auf der Ebene der Lexik mehr Lehnwörter aus dem Altslawischen enthält, als es antike, griechische Überbleibsel hinüberrettet. Ein neugriechischer Dialekt zwar, allerdings einer der viele Wörter mit Endungen auf -ovo, -ica und – ja – auch auf -išta enthält. Angefangen vom Dorfnamen Vristovo, wo ich mir als Kind düstere Gedanken machte, wie es sein kann, dass ein Ort mehr als siebzig Kilometer vom Meer entfernt sein kann, bis zum nahen Selišta, wo es buchstäblich nichts gab – nicht einmal Bäume – erinnerte die Lexik von Oma Aphrodite und Opa Epameinondas an das Reich des Zaren Dušan im 14. Jh., der uns wohl die slawischen Flur- und Dorfnamen hinterließ.

Wie Selišta in der Gegend meiner Mutter, so gibt es auch in der Gegend der Mutter meiner Kinder einen Fleck im Wald, wo es nichts gibt – nicht einmal Bäume. Lexenried ist eine frühneuzeitliche Rodung, daher auch der Name. Am Namen “Lexenried” lässt sich erkennen, dass die Rodung früher an einer Grenze lag. Es lässt sich allerdings am deutschen Namen nicht erkennen, wofür die Rodung gemacht wurde. Das Kirchenslawische lässt dagegen einen einsehen: In Selišta war ein Dorf, ein selo, geplant – oder eines zerstört worden. Denn wie ich von diesem österreichischen Mediävisten erfuhr, deutet die Endung -išta auf einen Ort hin, wo das Fehlen von etwas Bestimmtem vorhanden ist. Eine “selišta” ist ein Ort, wo es etwas gibt, nämlich kein Dorf (geplant? zerstört?), eine “crkvišta” ein Ort, wo es etwas anderes gibt: keine Kirche usw.

In Selišta gab es natürlich auch keinen Hafen – die ominösen siebzig Kilometer… Aber vorhanden war dort das Fehlen des Dorfes, nicht des Hafens, deshalb sagt man ja “selišta“, “Dorflosigkeit”, und nicht etwa “lučišta” – “Hafenlosigkeit”. Das zeigt, dass es natürliche Sprachen mit einer eingebetteten Präferenz für den Meinongianismus gibt, die ontologische Position, der zu Folge nichtexistente Gegenstände auf eine Art vorhanden sein können. Natursprachliche Präferenzen für den Meinongianismus sind heute im Sinn der Experimentalphilosophie mehr und mehr wichtig.

Ich denke an all das, weil ich erstens über Ostern im besagten Lexenried war, weil mir zweitens eine Rezension über Dale Jacquettes neuestes Buch auffiel, die mich neugierig machte, das Buch zu lesen. Sein Titel: Alexius Meinong, the Shepherd of Non-Being.

Zum Schluss ein Foto des sartrischen Nichts, das Lexenried ausmacht. Ich weiß, ein Foto des Nichts sollte etwas dunkler aussehen. Aber sogar ein Pariser Café, wo der erwartete Freund nicht auftaucht, verwandelt sich in das Nichts – so jedenfalls Sartre.

Ein Foto des Nichts kann der Leser nicht in jedem Blog antreffen.

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This is a picture of nothing. I know, my readers expect pictures of nothing to be dark. However, I have to remind you that Sartre said that even Paris cafés turn to nothingness if the friend you expect to see there doesn’t appear.

The nothing you see above is called Lexenried. It’s a forest clearance situated near the place where my wife grew up. In a strongly dialectal Southern German, the name means: “forest clearance near the border” – meaning some previous border that is irrelevant now.

Since I was a child I found forest clearances dull. One I still can remember of was near the village my grandma Aphrodite and my grandpa Epameinondas came from. It was also a border alright: the one between the Greek Republic and the Socialist Republic of Albania. The clearance was on our side – on whose else? I mean, we visited it sometimes – and it was called “selišta“, which is not Albanian – but you expected this – and it’s also not Greek.

I wasn’t interested in the peculiarities of the Northwest Greek dialect back then, when we visited the place. I was much more concerned about the unfathomable disaster of spending summer vacations at a place about 50 miles away from the next sea coast. In Greece, this is very random. Add that, as a son of a father from the islands I usually spent the summer just beside the seaside and only very rarely at “mom’s place”, to get the picture. As an aftermath I hated the Northwest Greek dialect as much as I was fluent in the island dialect – which, I have to say, I’m still. Dušan, the Serbian tzar of the 14the century, and his expanding kingdom have been the reasons that this phonetically only too unspectacular modern Greek dialect has so many Old Slavonic lexical loans. “Selišta”, the name of the aforementioned forest clearance, is one of them.

Now, this Austrian medieval-studies scholar tells me that, unlike the German “Lexenried”, in the Old Slavonic name “Selišta”, you can hear that the clearance was the place for or of a village, a selo, that was planned or destroyed. The ending -išta refers to a place where something is available: the nonexistence of a certain concrete thing. E.g. a “crkvišta” is a place where a church either has to be built or was destroyed.

In Selišta there was, of course, no port as well (50 miles, remember?). However, the nonexistence of a village is a much more indisputable fact there than the nonexistence of a port, therefore we speak of a “selišta“, the “nonexistence of a village” instead of a “lučišta” – the “nonexistence of a port”. As one sees, there are natural languages with an inherent preference for Meinongianism, the position in ontology according to which nonexistents in a way exist. From the point of view of experimental philosophy this is not an unimportant preference of natural languages – or, at least, of some of them.

Much more of a dictionary of Old Slavonic, my recommendation to read is Dale Jacquette’s newest book titled: Alexius Meinong, the Shepherd of Non-Being. For now you can read a discussion of it here .