Aristoteles +

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Einer Legende zufolge, deren Ursprung mir unbekannt ist, beging Aristoteles im Jahr 322 v. Chr. Selbstmord, indem er in die Euripus-Meerenge sprang, da sie das einzige Naturrätsel dargestellt hätte, das er nicht hätte lösen können.

Am Euripus, in Chalkis, der Hauptstadt der Insel Euböa, fließt der Meeresstrom mal in südliche, mal in nördliche Richtung. Damit sind gegenteilige Flut und Ebbe an der nord- sowie der südeuböischen Bucht verbunden. Das ist schon krass. Aber war Aristoteles so hysterisch, sich das Leben deswegen zu nehmen? Ich sage: ausgeschlossen! Die Behauptung allein, ausgerechnet auf Euböa wäre Aristoteles an die Grenzen seiner Fähigkeit gestoßen, Erklärungen anzubieten, zeugt von krankhaftem euböischem Stolz.

Trotzdem fotografierte ich die Spuren des berühmten Phänomens vor nicht langer Zeit vor meinem euböischen Grundstück.

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There is a legend, about whose origin I have no idea, according to which Aristotle committed suicide in the year 322 BC by jumping into the Euripus-strait where the stream changes directions causing high tide in the Northern Euboean bay when there is low tide in the Southern Euboean bay and vice versa.

That Aristotle did die in Euboea, is an established historical fact. But could he be so hysteric to commit suicide because of the only puzzle in nature which he, allegedly, was unable to resolve? I say: “no”.

It’s a peculiar Euboean pride to say that Aristotle failed only in reference to Euboea.

However, quite recently, I did take a picture of the phenomenon just in front of my property.

Athens and Samarkand

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Der Gegensatz zwischen Athen und Jerusalem, der Philosophie und dem Glauben, ist seit Tertullian ein Topos der religiösen Literatur. Der Gegensatz zwischen Athen und Samarkand könnte ein Topos der politischen Literatur sein, aber um einen solchen geht es mir hier nicht. Vielmehr liegt es mir daran, auf ein philosophisches Rätsel aus Samarkand hinzuweisen, das gewöhnlich mit dem antiken Griechenland verbunden wird. Ich finde die Samarkand-Version sehr lehrreich und gewissermaßen vorteilhaft.

Nasreddin Hodscha, dem legendären Gelehrten und Witzbold des Ostens soll zu Ohren gekommen sein, dass Tamerlan einen Galgen an einem der Tore Samarkands aufgestellt und befohlen hat, an diesem Galgen sollen nur und alle Lügner gehängt werden. Prompt begibt sich Nasreddin zum besagten Tor bzw. Galgen. Auf die Frage der Wache, was er denn dort suche, antwortet er: “Ich bin gekommen, um gehängt zu werden”. Ein Wächter erwidert befremdet: “Du lügst”.

Wenn Nasreddin lügt, dann muss er gehängt werden. Aber dann ist er tatsächlich gekommen, um gehängt zu werden, was heißt, dass er nicht lügt. Aber wenn er nicht lügt, wird er nicht gehängt. Also lügt er – usw. usf.

Mir erscheint dieses Paradox eine gute Antwort an diese Leute, meistens Mathematiker, die meinen, dass die semantischen Paradoxien einfach Widersprüche sind. Offensichtlich aber kommt im Austausch zwischen Nasreddin und der Wache kein Widerspruch vor.

In Samarkand hatte man also zu und nach Tamerlans Zeit eine Ahnung von Logik, deren Überlieferung immer noch lehrreich ist. Und in Athen gab es Moscheen, deren Überreste man heute noch fotografieren kann.

Athens Mosque

The opposition between Athens and Jerusalem, Philosophy and faith, has been a very usual topic of religious letters since Tertullian. An opposition between Athens and Samarkand could be a topic in politics but I am not raising this now. I rather intend to draw attention to a philosophical puzzle from Samarkand, one which, however, is much more usually associated with ancient Greece. I think that the version from Samarkand is useful and has some advantages.

The story says that Nasreddin Hodja, the wise and funny protagonist of many oriental stories, heard that Tamerlane ordered that only and all liars should die at the gallows standing at a certain gate of Samarkand. Nasreddin went there to be asked by the guard what was his reason for being there. Nasreddin’s answer was: “I came to be hanged”. The guard assumed: “You are lying”.

If Nasreddin lies, then he must be hanged. But then he really came to be hanged. In this case he does not lie. But if he does not lie, he is not there to be hanged. But then he did lie to the guard after all and has to be hanged – etc. etc.

This paradox is, I think, a good counter-argument to all these logicians, mostly mathematicians, who think that the semantic paradoxes are contradictions. However, no contradiction occurs in the discussion between Nasreddin and the guard.

In Tamerlane’s time and afterwards there was in Samarkand some logic scholarship whose tradition can still be useful. At about the same time in Athens mosques started to be built whose remainings can still be photographed today.

Thaumata

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An jedem 15. August, an Mariä Himmelfahrt, sollen verschiedene Wunder geschehen, die – wem denn sonst – der Mutter Gottes zugeschrieben werden. Viele Menschen glauben, dass eine wundertätige Wirkung das Vorkommen eines nicht klassifizierbaren Ereignisses erklärt. Das ist natürlich falsch. Zu sagen, ein Ereignis sei ein Wunder gewesen, erklärt das Ereignis nicht, sondern es stellt ein Zugeständnis dahingehend dar, dass es für das betroffene Ereignis keine Erklärung gibt.

Aber wie ich an anderer Stelle Gelegenheit hatte zu argumentieren, kann der Umstand, dass es für etwas keine naturalistische Erklärung gibt, nicht naturalistisch erklärt werden.

More explicit

Every August 15th, on the feast of the Dormition of Theotokos, several miracles are supposed to happen. They are attributed to Virgin Mary. Many believe that a miraculous deed explains non-classified events. This is, of course, false. If you say that an event was miraculous, this does not explain the event. Much more, it declares that there is no explanation for the event in question.

I had the opportunity to argue here that lack of a naturalistic explanation for something does not mean that something cannot be explained naturalistically.

La distinction

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Eine der wichtigsten Lehren, die der Bourdieu-Leser lernt, ist, dass der für verschiedene soziale Schichten typische Verhaltenscodex und Geschmack für Außenstehende dadurch schwer kopierbar gemacht wird, dass er sich von anderen nur in feinen Nuancen unterscheidet. Manchmal können aber Außenstehende nicht einmal Grobes unterscheiden. Der Neureiche hat kein Segelboot oder einen albernen Namen für sein Boot oder sowohl kein Segelboot als auch einen albernen Namen dafür. So z.B. “Mückilein” oder irgend etwas noch Grauenvolleres.

One of the most important lessons which one can learn from Bourdieu is that social distinction and taste typical for some social milieu cannot be copied. Outsiders wouldn’t know what to copy, since the distinctive things are too fine. But sometimes they wouldn’t even notice huge differences. The new rich normally don’t own sailing boats or have silly names for their boats – names like “Little Bug” for example. Or they have a boat with no sails AND with a silly name.

Der Südosten

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Da der diesjährige Weltphilosophiekongress in Athen stattfand (heute war sein letzter Tag, was dieses Posting wohl zum letzten zu diesem Thema macht), sehe ich mich zu der Frage veranlasst, welche südosteuropäische Philosophieproduktion der letzten Jahrzehnte das Interesse einer internationalen Leserschaft verdient. Ich denke, dass der griechische religiöse Existenzialismus (Yannaras; früher Ramfos) durchaus lesenswert ist. Aber in Sachen analytische Philosophie sind Autoren wie Stojanović, Arsenijević und Marković (OK, OK, letzterer ist politisch äußerst umstritten) viel besser als jedes andere ihrer südosteuropäischen Pendants in Sachen Metaethik, Metaphysik und Erkenntnistheorie respektive. Wenn man die normative Ethik der Praxis-Schule hinzufügt, hat die serbokroatische Produktion mit Sicherheit die Nase vorn. Sie ist abendländisch, breit gefächert und trotzdem eigenartig.

This is the last posting on the World Philosophy Congress 2013 in Athens. Today was its last day anyway. When the focus is on a province, it’s predictable to ask which parts of the production there would be worthy of an international public. Definitely, Greek religious existentialism (Yannaras; early Ramfos) contains some very good pages. But if you think of analytic philosophy, then Stojanović in metaethics, Arsenijević in metaphysics and Marković in epistemology (despite the heavy political “luggage” of the last one), are authors much more important than any other counterpart which they have in SE-Europe. I would like to add the normative ethics of the Praxis-school which makes clear that the Serbocroatian philosophical production has it all: it’s occidental, broadly construed and idiosyncratic at the same time.

Klassisches Dilemma

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Es ist unglaublich, wie viel Logik sich im trivialen Kulturschema verbergen kann. Z.B. hörte ich heute folgenden Spruch: “Wenn du trinkst, stirbst du. Wenn du nicht trinkst, stirbst du. Am besten ist es also, wenigstens getrunken zu haben, bevor du stirbst.” Hier haben wir ein klassisches Dilemma mit einer typischerweise einzigen Schlussfolgerung, mit mindestens einer wahren Interpretation und vielen sophistischen – je nachdem, was man trinken soll, wieviel davon, und warum man sterben soll. Und die rational-choice-Theorie ist ansatzweise auch dabei. Lasst den Spruch auf der Zunge zergehen. Es ist Zauberei.

It is astonishing how much logic you can find in an ordinary-people-saying. E.g.
in the following which I heard today: “If you drink, you die. If you don’t
drink, you die. Therefore you’d better drink before you die.” What we have here
is a classical dilemma with its typical unique conclusion, at least one true
interpretation and many-many sophistical ones depending on what you are supposed
to drink, how much you are supposed to drink, and which are supposed to be the
reasons of your death. Not to mention the rational-choice-theory which you get
just like this… Let the saying melt on your tongue. It’s magic

Zēlōtēs

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Reza Aslan, ein iranisch-amerikanischer Professor für kreatives Schreiben an der University of California – Riverside, schrieb ein Buch mit dem Titel Eiferer (im englischen Original: Zealot aus griechisch “zēlōtēs”). Aslan ist ein Muslim (angeblich ein Konvertit aus dem Christentum) und religiöser Eifer ist der Hauptbefund seines Buches in Bezug auf Jesus – es ist ja ein Buch über Jesus. Aslan hat im Fach Religionswissenschaft promoviert (an der University of California – Santa Barbara bei Mark Juergensmeyer über die globale Dschihad-Bewegung) und kann biblisches Griechisch.

In einem inzwischen berühmt-berüchtigten Interview bei Fox News beantwortete Aslan die Frage der Journalistin Lauren Green, wieso er bei seiner religiösen Identität ein Buch über Jesus schrieb, mit verletztem Stolz und nicht ohne eine gewisse Überheblichkeit – wahrscheinlich kam ihm nur deswegen, im “Eifer des Gefechts” sozusagen, die falsche Angabe von den Lippen, er wäre Professor für Religionswissenschaft.

Greens Frage war, meine ich, wirklich dümmlich. Es ist nämlich dümmlich, jemandem wegen fehlender Empathie (kultureller Affinität, religiöser Identität oder sonstirgendwas) Defizite im Verständnis eines Textes oder Tradition zu unterstellen. Es gab ein paar Gespräche, als ich meine Doktorarbeit über Kant schrieb, bei denen ich mich in Aslans jetziger Lage sah, und ich bin nicht der erste und nicht der letzte in dieser Lage. Ich kann mich noch an die Worte erinnern, mit denen der Hamburger Byzantinist Hans Eideneier einen seiner griechischen Kollegen zitierte: “Wie Hans, du behauptest, du verstehst Homer besser als ich! Homer fließt in meinen Adern!” Die Unterstellung eines privilegierten Zugangs zu einem Stoff wegen kultureller Affinität ist eindeutig ebenfalls dümmlich – wenn nicht was Schlimmeres.

Ebenfalls stört mich allerdings auch die Heuchelei von Greens Kritikern. Die meisten Stellen und Lehrstühle für Religionswissenschaft sind bestimmten Kulturkreisen gewidmet. Da setzt man gern auf Empathie. Wieso sollte Green nicht fragen, warum Aslan von “seinem” Feld abkam?

Dass Jesus ein Eiferer war, glaube ich nicht. Es gibt doch vielzuviele Beispiele dafür, dass er ein unkonventionelles Verständnis von Regeln vertrat – was für alles andere als für einen Eiferer spricht! Aber bereits diese meine Voreingenommenheit gegen die Hauptthese im Buch macht es lesenswert für mich.

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Reza Aslan, an Iranian-American professor for creative writing at the University of California – Riverside, wrote a book with the title Zealot. Aslan is a muslim (apparently a convertite from christianity) and he claims that his subject in the book, Jesus, was occupied by religious zeal. Aslan earned a Ph.D. in sociology of religion at the University of California – Santa Barbara with a thesis on global jihadism whose supervisor was Mark Juergensmeyer and he can work with biblical Greek.

In an Interview with Lauren Green of Fox News, one which has already received very harsh critics, Aslan couldn’t help showing his hurt ego upon the Journalist’s question concerning the motives of a muslim to write a book on Jesus – and some arrogance. Probably it was only in the “heat of the moment” that he made the mistake of claiming himself to be a professor of religious studies – which he is not.

Green’s question was really stupid, I think. It is always stupid to consider someone less competent in the understanding of a text or a tradition because of lack of empathy – be it cultural affinity, religious identity or you name it. There were discussions during my Ph.D. studies on Kant in which I saw myself in Aslan’s present position. I was neither the first nor the last to feel like this. I can still remember the words with which Hans Eideneier, a professor of medieval Greek studies at the University of Hamburg, cited one of his Greek colleagues: “What do you mean Hans: you understand Homer better than I do? Homer is in my blood!” Claiming a privileged access to some material because of cultural affinity is obviously also stupid – if not worse.

However, the hypocrisy of Green’s critics is also annoying. As if most of the jobs in religious studies weren’t affiliated in certain cultural fields… Empathy is considered something good there. If so, why shouldn’t Green ask why Aslan didn’t remain on “his” field?

I don’t believe that Jesus was a zealot. Rather the opposite, since there are plenty of cases in which he pleaded for an unconventional understanding of rules. But already the non sympathetic way in which I see the main position of the book makes it interesting to me.